IN 12 TAGEN UM DIE HALBE WELT

Fortsetzung des Artikels aus Trotter 216

von Andreas Junger

In einer knappen halben Stunde prasseln derart viele Eindrücke auf mich ein, dass ich jetzt auch schon ein Nickerchen zur Verarbeitung des Gesehenen benötigen könnte. Stattdessen fahre ich mit dem commuter train, also dem Vorort-Pendlerzug, bis zur Endhaltestelle Churchgate, denn dort soll ich mein Ticket für die morgige Bahnfahrt kaufen können. In der Bahnhofshalle gibt es unzählige Schalter für Nah- und Fernfahrten, aber niemand kann, beziehungsweise darf mir das begehrte Billet ver kaufen. Anstelle dessen werde ich an ein spezielles Büro in einem außerhalb liegenden Eisenbahn-Verwaltungsgebäude verwiesen.

Reisetipp für Zugfahrten in Indien und Fahrkartenkauf

Für den Kauf der Bahnfahrkarte muss ich meinen Original-Reise pass vorlegen, eine Fotokopie oder ein Bildschirmfoto auf dem Handy reichen nicht aus! Nachdem ich mit hilfe der freundlichen Angestellten noch ein einseitiges, auf Hindi und Englisch eng bedrucktes Formular ausgefüllt habe und die Dame meine Pass- und Reisedaten wie anno da- zumal in einem riesigen Bahnjournal handschriftlich eingetragen hat, halte ich die gewünschte Zugfahrkarte für meine erste Teilstrecke durch Indien in den Händen. Bereits am morgigen Silvestertag um 6 Uhr in der Früh geht der »Gitanjali Express« vom Hauptbahnhof Mumbais, der CST Railway Station oder kurz CSMT auf seine ca. 850 Kilometer lange Reise bis nach Nagpur im Herzen des riesigen Subkontinents, wo der Zug fahrplanmäßig um 18.55 Uhr eintreffen soll.

Ich fahre nicht in einem Rutsch zu meinem eigentlichen Ziel Kolkata (ehemals Kalkutta) am anderen Ende von Indien durch, weil ich die Silvesternacht nicht im Zug verbringen möchte. Während der kurzen Reisevorbereitung fällt mir mit Blick in den Diercke-Weltatlas auf, dass sich ziemlich genau auf der Hälfte zwischen Bombay und Kolkata die mir völlig unbekannte aber scheinbar recht große Millionenstadt Nagpur befin det. Und so kommt es, dass ich wegen des Jahreswechsels meine Bahnfahrt quer durch Indien in zwei Fahrten aufteile, ohne bereits in Deutschland bereits ein Ticket in der Hand zu hal ten. Natürlich geht alles gut, denn Züge sind bekanntermaßen, auch in Deutschland, nie ausgebucht, wenn man bereit ist mit einem Stehplatz oder Sitzplatz in der 3. Klasse vor lieb zu nehmen. Diesen bekomme ich dann auch mangels Alternativen zugewiesen und freue mich auf eine spannende Bahnfahrt am nächsten Tag für lächerliche 665 Rupien, was gerade einmal 6,65 Euro entspricht. Die exakt 837 Bahnkilometer lange Strecke kostet mich also lediglich 0,8 Euro-Cent pro Kilometer! Die weitere Fahrkarte für die Strecke Nagpur – Kalkutta kann man mir hier und jetzt nicht verkaufen und verweist mich an die Kolleginnen vor Ort in Nag pur. Warum muss heutzutage auch immer alles vorab und dann noch in diesem komischen Internet gebucht werden? Mir gefällt diese spontane, leicht abenteuerliche und für Planän derungen offene Art jedenfalls sehr gut und ich mache mich fröhlich von dannen, um die Stadt zu besichtigen.

Stadtbesichtigung von Mumbai, dem kolonialen Bombay

Auf dem Oval Maidan spielen etliche Jugendliche und heranwachsende Männer den Nationalsport Cricket, vor der genialen britischen Kolonialarchitektur von Rajabai Clock Tower, High Court of Bombay, Elphinstone College, University of Mumbai, Bank of India, Flora Fountain und Convo cation Hall. In einer altehrwürdigen Buchhandlung stöbere ich ein bisschen und lasse mir im angeschlossenen Café eine heiße Schokolade schmecken. Unglaublich, aber wahr: Der Milchschaum bildet die Umrisse von Indien!

Für das Fort, Gateway of India Mum bai, die Halbinsel Colaba bleibt mir ebenso wenig Zeit wie meinem englischen Reise- und Abenteuer-Vorgänger Phileas Fogg, wenngleich er folgende Attraktionen des Jahres 1873 aus Desinteresse nicht gesehen hat:

»Den Sehenswürdigkeiten von Bombay schenkte er nicht einen Blick. Ihn interessierten weder das Rathaus und die berühmte Bibliothek noch die Befestigungsanlagen und der Hafen. Was kümmerten ihn die Basare, der Baumwollmarkt, die Moscheen, die Synagogen, die armenischen Kirchen und die herrliche Pagode von Malabar Hill mit ihren beiden vieleckigen Türmen! Er besuchte nicht einmal die Meisterwerke von Elephanta und die geheimnisvollen Grabgewölbe im Südostzipfel der Reede, und er fuhr auch nicht hinüber auf die Insel Salsette, um dort die bewundernswerten Zeugnisse buddhistischer Kunst, die Kanheri-Grotten, zu besichtigen.« Der Roman von Jules Verne liest sich wie ein exzellent vor Ort recherchierter Reiseführer im Stile von Merian oder Baedeker und hat scheinbar kaum etwas an seiner Aktualität und Bedeutsamkeit für Touristen eingebüßt. Bombay, ich komme wieder, keine Frage.

Rushhour im Zug und Fußball- Länderpunkt Indien

Jetzt hat aber erstmal der Länderpunkt Indien, mein Fußballland Nummer 89, oberste Priorität und so fahre ich mit dem bekannten Pendlerzug wieder zurück zur Bahnstation Jogeshwari. Es ist Rushhour und ich erlebe das Milliardenvolk in Aktion: Gedränge, Gequetsche, Geschiebe im Bahnhof, auf dem Bahnsteig und vor allem beim Ein- und Ausstieg aus den Zügen mit den geöffneten, beziehungsweise nicht vorhandenen Türen. Das volle Programm. Irgendwie quetsche ich mich auch mit hinein und boxe mich an meiner Haltestelle wieder raus aus dem Zug. Völlig durchgeschwitzt steige ich auf ein Moped-Taxi und gemeinsam schlängeln wir uns durch die halb fahrenden, halb stehenden Autos im Verkehrskollaps Richtung »Mumbai Football Arena«. In einem Auto-Ta xi wäre ich nie im Leben pünktlich beim Spiel gewesen. Auch jetzt wird es noch eine enge Kiste, denn am Eingang gibt es nicht, wie von mir erhofft, die guten alten Kassenhäuschen, wo ich bequem schnell ein paar Rupien auf den Tresen knallen kann um die Eintrittskarte zu bekommen. Stattdessen der Hinweis der Ordner, dass es ausschließlich Online-Tickets gibt. Es ist zum K…, beschissene neu modische Digitalwelt!

Da ich für die fünf Tage Aufenthalt in Indien ja nicht extra eine SIM-Karte am Flughafen gekauft hatte und stattdessen voll und ganz mit allen Sinnen Indien ohne Internet-Terror erleben möchte, mache ich mir meine Hartnäckigkeit und Kommunikationsfähigkeiten zunutze, indem ich dem nächstbesten Inder neben mir am Eingang meine Situation schildere. Er ist auf Zack, versteht sofort mein Problem und ordert mit seinem Handy vor den Augen des Ordners ein E-Ticket über das Portal »book my show« für mich. Keine Minute später ist alles beendet: Beide Tickets werden gescannt, ein paar Rupien wechseln den Besitzer und ich bin wie gewünscht im Stadion, welches 1988 eröffnet wurde und eines der wenigen Fußballstadien im Cricket-Land Indien ist, welches ausschließlich für meine Lieblingssportart gebaut wurde. Weil das runde Leder aber nicht besonders populär im Land ist, hat das Erstligastadion auch nur eine Kapazität von 8.000 bis 10.000 Plätzen. Da sind ja selbst die Grounds in Kiel und Heidenheim (jeweils 15.000) in der heimischen Bundesliga um einiges größer.

Wenn Inder eines nicht können, dann ist es Sport treiben, wie man ja eindrücklich alle vier Jahre bei den Olympischen Spielen sehen kann. Zusammen mit den beiden anderen südasiatischen Ländern Pakistan und Bangladesch bildet das bevölkerungsreichste Land der Welt regel mäßig das Schlusslicht im Medaillenspiegel und steht auf Augenhöhe mit irgendwelchen Südseeländern beim Verhältnis Bevölkerung / Medaillen. So verwundert es nicht, dass das Erstligaspiel höchstens dem deutschen Viertliganiveau entspricht. Mumbai City FC verliert das Spiel gegen North East United aus der Stadt Guwahati im Bundesstaat Assam mit 0:3 und dennoch feuert ein kleiner Fanblock die Spieler nach Kräften an. Nach dem Spiel beobachte ich noch den Auflauf der Fans vor Spielerkabine und Mannschaftsbus. Starkult gibt es also auch in Indien.

Ich trödle nach dem Spiel herum und komme erst gegen 23 Uhr am Hotel an. Dort erzähle ich von meiner morgigen Zugfahrt nach Nagpur ab 6 Uhr und erfahre staunend, dass der Rezeptionist mir eine Abfahrtszeit des Taxis vom Hotel um 4 Uhr vorschlägt! Auch spätnachts oder frühmorgens (je nach Sichtweise) könne dichter Verkehr herrschen und ich möchte ja nicht den Zug verpassen, oder? Ich gebe mich geschlagen und füge mich meinem Schicksal, wo ich doch notorischer Langschläfer bin! Der strategische Fehler bei der Hotelauswahl kostet mich also mindestens 30 Minuten kostbaren Schlaf. Hätte ich doch besser ein Hotel in Bahnhofsnähe genommen. Gute (und kurze) Nacht.

Tag 6 (Silvester 2024):Indien, Tag III / V: Die Zugfahrt von Mumbai nach Nagpur

Nach nur vier Stunden Schlaf rappelt der Handywecker und kurz darauf klopft auch schon der Nachtportier an meiner Zimmertür, welchen ich als menschlichen Wecker in Reserve bestellt hatte. Sicher ist sicher. Im Halbschlaf schmeiße ich mich in das reservierte Taxi, sehe die leere Stadt an mir vorbeirauschen und bin nur 30 Minuten später, selbstverständlich ohne jeglichen Stau oder sonstige Unregelmäßigkeiten, am Haupt bahnhof von Mumbai. Die Sonne ist um 4.30 Uhr noch längst nicht aufgegangen und ich muss im Halbdunkeln noch 90 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges im Bahnhof abhängen. In den Dreckslöchern der Hauptbahnhöfe Hamburg oder Frankfurt am Main wäre das um diese Uhrzeit ein riesengroßes Problem, nicht aber in der größten Stadt Indiens.

Hauptbahnhof Mumbai – britische Kolonialarchitektur par excellence trifft schlafende Menschenmassen

Mit Blick auf den Hauptbahnhof CSMT verschlägt es mir die Sprache: 1887 zum goldenen Thronjubiläum von Königin Victoria auf dem Höhe punkt des British Empire fertiggestellt, sucht dieser Prachtbau seinesgleichen. Er ist ein Paradebeispiel für die Verschmelzung von indischer und viktorianischer neugotischer Architektur und selbstverständlich UNESCO-Weltkulturerbe. Mondschein und Scheinwerfer erleichtern mir die Nachtfotos, bevor sich mit Blick auf die Imbissstände auf dem Bahnhofsvorplatz mein Magen für ein vorgezogenes Frühstück um 5 Uhr meldet. Ich lasse mir ein Omelette braten und trinke einen frisch aufgebrühten Tee mit Milch aus einem immer wieder verwendeten, aber immerhin in trübem Wasser gewaschenen Stahlbecher. Wundersamerweise bleibt meine Verdauung trotzdem »standhaft«, alle Keime wurden beim Erhitzen wohl abgetötet.

Nach der Stärkung möchte ich einen Blick in die prachtvolle Bahnhofshalle werfen und traue beim dortigen Anblick meinen Augen kaum, denn ich beobachte in diesem Umfang noch nie zuvor gesehene Szenen: Dutzende, nein hunderte von Indern rasten dort. Ein paar wenige lesen oder dösen, aber der Großteil der Menschenmasse schläft den Schlaf der Gerechten überall verteilt in der riesigen Halle. Es gibt keinen Ort, an dem niemand schläft: Eisen-Sitzbank, Stuhl und Marmor-Fußboden aber auch auf so ungewöhnlichen Orten wie Karren oder Säcken. Der Oberknaller ist ein schlohweißer Inder, der mindestens 130 Jahre alt ist und in ein buntes Laken gehüllt auf einem ovalen Tisch schläft, wobei seine Füße wie selbstverständlich über den Rand hinausragen. Im satten und reichen Europa und vielen weiteren Ländern der Welt sind solche Szenen völlig unvorstellbar, nicht aber im bettelarmen und unkonventionellen Indien! Auf dem Weg zu meinem Abteil beobachte ich noch die Malocher, wie sie mit ihrer Muskelkraft übergewichtige Pakete von den hölzernen Handkarren in den Frachtraum hieven. Seit wann sind solche Szenen in Europa ausgestorben? Ich liebe solche Zeitreisen, diese erden mich richtig!

In der 3. Klasse durch das Hochland von Dekkan von Maharashtra

Pünktlich um 6 Uhr beginnt dann die 13-stündige Zugfahrt über exakt 837 Bahnkilometer für weniger als 7 Euro von der Westküste in Mumbai Richtung Osten nach Nagpur ins Zentrum dieses faszinierenden Landes. Der Zug hat insgesamt 15 Waggons, wobei sich ungefähr in der Mitte ein reiner Küchenwaggon befindet, um die geschätzt 1.500 bis 2.000 Passagiere auf der langen, insgesamt 31-stündigen Fahrt über knapp 2.000 Bahnkilometer bis nach Howrah, den Bahnhof von Kalkutta, angemessen zu versorgen. Alle Abteile in meinem Waggon der 3. Klasse sind offen, es gibt keine Türen. Auf der einen Seite des sehr schmalen Ganges – dieser Wortwitz mit dem gleichnamigen indischen Fluss sei mir als Deutschlehrer gegönnt – befinden sich zwei blaue Liegen aus leicht abwaschbarem Kunststoff übereinander und das eigentliche Abteil auf der anderen Seite besteht aus zwei Mal drei Liegen übereinander, welche zu dieser frühen Stunde auch rege zum Schlafen genutzt werden.

Ich klettere also in den 3. Stock und nehme auch noch eine Mütze verdienten Erholungsschlaf, sodass ich die Fahrt durch die Gebirgszüge der Westghats leider verpasse. Derweil tuckert die indische Landschaft im gefühlten Schneckentempo von durchschnittlich 64 km/h an uns vorbei – oder je nach Sichtweise wir an ihr. Irgendwann gegen 10 Uhr wird dann die mittlere Liege hochgeklappt, sodass die drei Bett-Passagiere auf der untersten Liege, nun zur Sitzbank umfunktioniert, Platz nehmen können. Mich hält es aber nicht lange in meinem Abteil, schließlich möchte ich den Zug und seine Insassen erkunden sowie die Landschaft, die Hochebene von Dekkan, bewundern.

Viele Inder schlafen oder dösen vor sich hin und benehmen sich ansonsten leider auch nicht anders als die sogenannten modernen Menschen anderswo: sie glotzen auf ihr Handy. Kaum jemand liest ein Buch, spielt ein Gesellschafts- oder Kartenspiel, führt ein intensives Gespräch oder schaut interessiert durch das Fenster auf die Landschaft. Mir bieten sich nichtsdestotrotz unzählige interessante Fotomotive. Ansonsten sei noch erwähnenswert, dass die Waggontüren alle geöffnet sind, sodass permanent ein wenig frischer Fahrt- wind durch das Abteil weht und ich bei einer langsameren Passage mal meinen Kopf durch die Zugtür halten kann. Über die sanitären Einrichtungen möchte ich besser keine großen Worte verlieren. Nur so viel: Ich bin froh, dass ich als Mann Stehpinkler bin, den Ort so schnell wie möglich wieder verlassen kann ohne großartig etwas anzufassen und das »stille Örtchen« ansonsten nicht für ein »großes Geschäft« aufsuchen muss. Da muss man durch, das ist nichts für zartbesaitete Seelen, that’s also India. An den kleineren Bahnhöfen steigen, wie in Entwicklungs- und Schwellenländern üblich, mobile Verkäufer des Informellen Sektors zu und verkaufen ihre Waren, also vorwiegend Snacks, warmes Essen, Obst und Getränke, aber auch Plunder aller Art. Der Steward eines jeden Waggons nimmt ansonsten auch Bestellungen des Bordrestaurants entgegen, falls nicht gerade ein fleißiger Kellner mit dem warmen Essen durch die Abteile läuft und dieses für einen sehr schmalen Taler (1,50 bis 2 Euro) direkt verkauft. Das Grundnahrungsmittel Reis ist obligatorisch und dann kann man zwischen zwei bis drei Varianten wählen: with chicken, veggie, spicy, not spicy – ready is the meal! Oh Wunder: Die warme Mahlzeit wird nicht wie befürchtet auf einem schon zigfach benutzten Stahlteller ohne Besteck serviert, sondern kommt wie beim Essen auf Rädern in einer schwarzen Plastikschale und mit transparenter Folie eingeschweißt daher. Bon appétit

Ankunft in Nagpur und Hotelsuche mit dem neuen indischen Freund

Unglaublich, aber wahr: Fünf Minuten vor der geplanten Ankunftszeit fährt der Gitanjali Express um 18.50 Uhr im Bahnhof von Nagpur ein. Die Stadt ist mit circa 2,5 Millio- nen Einwohnern nach Mumbai und Pune (3,1 Millionen Einwohnern) die drittgrößte Stadt des Bundesstaates Maharashtra, welcher mit 307.000 km² nach Rajasthan (342.000 km²) und Madhya Pradesh (308.000 km²) der drittgrößte Bundesstaat Indiens ist. Zum Vergleich: Deutschland hat eine Fläche von ungefähr 358.00 km². In der Industriestadt im Zentrum Indiens gibt es Papier- und chemische Industrie sowie Maschinenbau; Baumwolle wird an- und Mangan abgebaut.

Ich schaue mir noch ein paar Minuten das Gedränge an den Türen an und beobachte die Arbeiter beim Be-, Ent- und Umladen des Sperrge- päcks, bevor ich in der Bahnhofshalle zum Fahrkartenschalter gehe um meine Weiterfahrt zu organisieren. In das 1.134 Bahnkilometer entfernte Kalkutta verkehren zwei Züge täglich: Morgen früh um 6 Uhr oder aber mit dem Zug genau 24 Stunden später um 18.55 Uhr. Der Frühzug fällt natürlich aus, schließlich ist es ja mein Plan, Silvester hier zu feiern, endlich mal wieder auszuschlafen und Nagpur zu besichtigen. Beim Zug am frühen Abend gibt es allerdings das Pro- blem, dass tatsächlich alle Sitzplätze komplett ausgebucht sind. Nun ist guter Rat teuer, schließlich kann und will ich nicht noch eine Nacht länger hierbleiben. Also gehe ich auf Risiko, kaufe einfach ein Ticket ohne feste Sitzplatzreservierung und lasse mich auf die »waiting list« setzen. Ich lande auf dem abgeschlagenen Platz 15. Na das kann ja heiter werden. Ich male mir bereits aus, wie ich die 18-stündige Nachtfahrt stehend oder im Gang sitzend verbringen muss.

Hatte ich schon erwähnt, dass Indien nichts für Weicheier ist? Die nette Bahnangestellte macht mir aber Hoffnung, indem sie mir rät im Laufe des morgigen Neujahrstags nochmal vorbeizukommen, dann wären ich sicherlich wieder einige Plätze frei geworden und man könne mir mit einem festen Sitz- und Schlafplatz weiterhelfen. Ich bezahle also 1.355 Indische Rupien (= 13,55 Euro) oder 0,01 Euro-Cent pro Bahnkilometer für das »unreserved ticket« in der 3. Klasse und freue mich über die billigste Langstreckenfahrt meines Lebens. Mein Pass wird kontrolliert und die Daten werden ordnungsgemäß ins riesige Eisenbahnjournal für Ausländer eingetragen.

Während meines Gesprächs am Schalter hilft mir ein netter Inder, der in der Schlange hinter mir steht. Wir kommen danach ins Gespräch, stellen uns vor und ich frage ihn ganz unbedarft, ob er ein gutes und preiswertes Hotel kennen würde, weil ich natürlich noch nichts gebucht habe.

»No problem my friend, I can help you!« Gesagt, getan. Der 24-jährige studierte junge Inder ist mir auf Anhieb sympathisch und meine langjährige Reiseerfahrung und Menschenkenntnis sagt mir, dass von ihm keine Gefahr ausgeht und ich ihm vertrauen kann. So wird es auch kommen, und wie! Ich steige also auf sein Moped, welches er direkt auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt hat und wir fahren ein paar Hotels ab. Irgendwie ist der Wurm drin, denn entweder sind die Hotels ausgebucht, haben keine Konzession um Ausländer beherbergen zu dürfen (ich wusste bis dato gar nicht, dass es sowas auch gibt) oder aber das Zimmer passt mir nicht beziehungsweise der Preis ist mit 13 Euro über meiner Schmerzgrenze von 10 Euro. Der junge Kerl fährt mich durch die halbe Stadt und mit Hotel Nummer 5 habe ich dann eine passende Unterkunft gefunden

Sightseeingtour in der Silvesternacht

Auf der Fahrt dorthin zeigt er mir schon stolz allerlei interessante Dinge in seiner Stadt und freut sich, dass ich einwillige, dass er mir nach dem check-in im »Hotel Sanskriti« auch noch den Rest seiner Stadt zeigen darf. So kommt es zum Deal, den ich schon so oft mit Einheimischen geschlossen habe: Diese fahren mich mit ihrem Auto oder Moped rum und zeigen mir ihre Stadt und ich zahle im Gegenzug Sprit, Eintrittsgelder und ein Essen. Wir hatten uns übrigens schon im Bahnhof namentlich gegenseitig vorgestellt, aber wir haben augenscheinlich unsere Namen gegenseitig vergessen und beiden scheint es peinlich zu sein nochmal nachzufragen, sodass wir uns fortan schlicht mit »friend« ansprechen. Wir fahren durch die Gegend und mein neuer Indian friend« bringt mich zu einer Moschee, wo wir anschließend an der Armenspeisung teilnehmen. Es ist bereits 20 Uhr und ich hatte noch kein richtiges Abendessen, habe ergo Hunger bis unter beide Kniekehlen. So lange ich also kräftig zu bei der kostenlosen Riesenportion »Reis ohne alles«. Als nächstes will der »amigo« mich zu einem beliebten See ein wenig außerhalb der Stadt bringen, aber auf dem Weg dorthin fällt ihm beiläufig durch Zufall ein, dass nur eine Parallelstraße entfernt etwas weiteres für mich Interessantes sein könnte. Dort angekommen, falle ich aus allen Latschen: Ich stehe völlig unerwartet vor dem »Zero Milestone«  beziehungsweise  der »Zero Mile of India«, also dem geographischen Mittelpunkt des gesamten Subkontinents Indien. Für mich als Geograph ist dies das Highlight schlechthin! Ich bin völlig aus dem Häuschen aufgrund dieses unerwar- teten Programmpunkts, springe vor Freude vom Moped, sage tausendfach Danke und mache meine berühmten (Grenz)-Steinfotos.

Es ist Silvester und mittlerweile 21 Uhr und ich frage mich, wann er die Tour abbrechen möchte, um mich zu meinem Hotel zurückzubringen und zu seiner Familie zu fahren um das neue Jahr dort zu begrüßen. Er hat aber keine Eile und ist augenscheinlich stolz, dass er mir seine Stadt zeigen darf. Mir soll’s recht sein, so habe ich Begleitung und bekomme eine kostenlose, nette und kompetente Stadtrundfahrt. Die Tankfüllung für 200 Rupien, eine Kugel Speiseeis und ein Tee gehen wie gesagt natürlich auf meine Kappe. Es ist nun 22 Uhr, aber am See angekommen, welcher Familien als Ausflugsziel und der »Dorfjugend« mit ihren Mopeds als Treffpunkt zum »Chillen und Abhängen« dient, ist hier noch »Tote Hose«. Ich frage mich, wann die Menschenmassen der sage und schreibe 2,4 Millionen-Einwohner-Stadt im Bundesstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt übrigens mein Ausgangsort Mumbai ist, denn endlich zur Silvesterparty kommen werden. Der Kumpel klärt mich auf, dass »New Year’s Eve« in Indien kein großes Ding ist und nicht zentral irgendwo gefeiert wird. Ein paar Familien stoßen zuhause auf das neue Jahr an, wenige Raketen und Böller werden vor der Haustür abgefeuert und das war’s dann auch schon mit Silvester in Nagpur und im gesamten Indien. So kommt es dann auch. Nur natürlich ein bisschen anders. Und zwar so:

Jahreswechsel im Gottesdienst der »All Saints‘ Cathedral«

Der Kollege will mich gerade zurück zu meinem Hotel bringen, als wir auf dem Weg dorthin eine noch im Weihnachtsglanz illuminierte Kirche sehen. Ein Gotteshaus sieht man in Indien auch nicht alle Tage, und weil er schon tausendmal daran vorbei gefahren ist, aber diese noch nicht von innen gesehen hat, fahren wir spontan aufs Kirchengelände der »All Saints‘ Cathedral«. Das Portal ist geöffnet, einige weitere Menschen gehen mit uns um kurz vor 23 Uhr hinein und wenige Minuten später be ginnt auch schon die Messe, an der wir spontan teilnehmen. Ich als braver Katholik habe schon an unzähligen Gottesdiensten überall auf der Welt teilgenommen, aber für meinen neuen Freund ist dies eine völlig neue Erfahrung. Der Pfarrer hält die Messe auf Englisch und nicht Hindi oder der lokalen Amtssprache Marathi ab, so- dass auch ich alles verstehe und bei den Liedern mitschmettern kann.

Die Uhr rückt immer näher Richtung Mitternacht und ich frage mich mi nütlich, wann mein companero denn nun endlich zu seiner Familie fahren möchte, um pünktlich zum Jahreswechsel bei dieser zu sein. Die echt fesselnde Predigt hat ihn aber der maßen gepackt, dass wir den Worten des Predigers bis kurz vor Mitternacht gebannt lauschen. Dann stimmt die Gemeinde ein Lied an und… das Licht geht wie bestellt pünktlich zum Jahreswechsel aus. Ich denke an eine geplante Aktion und erwarte nun Händeschütteln, ein »Happy New Year« oder den Gang der Gemeinde vor die Kirche um ein Feuerwerk zu bestaunen. Pustekuchen. Nichts von alledem geschieht. Es handelt sich um einen profanen Stromausfall! Das Kirchenlicht geht nach ein paar Sekunden wieder an, die Gemeinde singt das Lied zu Ende und der Pastor ergreift wieder das Wort. Die Messe geht einfach weiter! Ich bin verdutzt, denn ich habe mittlerweile ja mit wenigen Feierlichkeiten gerechnet, aber mit gar keinen nun auch wieder nicht. Wir verlassen also die Kirchenbank, schütteln uns um 0.04 Uhr die Hände und wünschen uns ein frohes neues Jahr. In der Ferne sehe ich wie angekündigt ein paar Raketen aus den Wohnvierteln in den Himmel steigen, Böllerknalle sind zu hören und gegen 0.10 Uhr ist das bisschen »Nichts« schon wieder zu Ende. So wenig Silvester habe ich auch noch nie gefeiert. Mein »friend« bringt mich zu einem Restaurant, welches noch nach Mitternacht geöffnet hat, möchte nichts essen, verabschiedet sich kurz von mir und entschwindet in die indische Neujahrsnacht. Im Restaurant empfängt man mich mit einem knappen »Happy New Year«. Andere Gäste essen nicht mehr, die Küche ist aber noch geöffnet, sodass ich mein Essen ruck zuck bekomme. Nach dem Mitternachtssnack mache ich einen Verdauungsspaziergang zum Hotel und stelle dort erstaunt fest, dass dieses bereits um 1 Uhr mit einem schweren Rollgitter verschlossen ist. Und das in der Silvesternacht bei angeblich 24 Stunden besetzter Rezep tion. Durch einen Spalt kann ich auf der Couch in der Lobby ein »Bündel Etwas« unter einer Decke entdecken. Aha, der Nachtportier will sein Geld also im Schlaf verdienen. Nicht mit mir: Ich scheppere aus Leibeskräften gegen das Stahltor, denn auf dem Gehweg möchte ich nicht übernachten. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird das Blech hochgeschoben und ich bekomme die Standpauke meines Lebens zu hören: »Why you come so late? It’s already after midnight! You not can come earlier? I want to sleep!« Ich bin um eine Lektion reicher im Leben: Silvester feiern in Indien? Vergiss es!

Wie es ab Neujahr 2025 in Nagpur, dem geographischen Zentrum von Indien und auf meiner weiteren Bahnfahrt bis nach Kalkutta weiter geht, erfahrt ihr im nächsten Trotter. Meine Reisevita Unterwegs-Sein folgt ebenfalls später.

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