[Trotter 187] Erfahrungen eines Diabetikers bei minus 63 Grad Celsius am Kältepol in Oimjakon tief in Sibirien
Text und Fotos: Werner Beck, Reisezeit Januar 2016
Feuer und Eis sind auf unserem Planeten zwei Extreme, zwischen denen sich unser Dasein bewegt. Ich frage mich, was hält der Mensch besser aus? Hitze oder Kälte? Und wie reagiert der Diabetes darauf?
Extreme Hitze von bis zu 55 Grad Celsius kenne ich bereits aus der Danakil-Wüste am Horn von Afrika, dem Hotspot Afrikas. Bei Hitze kämpfe ich ständig gegen Unterzuckerungen. Die Einstellung bleibt Glückssache, denn bei solchen Extremen liefern meine Blutzuckermessstreifen keine zuverlässigen Werte.
Seit der Danakil-Reise sind ein paar Jahre vergangen. Jetzt sitze ich in der Transsibirischen Eisenbahn auf der Suche nach genau der entgegengesetzten Erfahrung. Es ist Mitte Januar und ich bin auf dem Weg zum »Kältepol«. Mit minus 71,2 Grad Celsius ist Oimjakon der kälteste bewohnte Ort auf unserem Planeten.
Nach 9.000 Kilometern und sieben Tagen Zugfahrt sitze ich bei minus 34 Grad Celsius im tiefsten Sibirien auf dem Bahnhof vom Tommot und warte auf einen Kleintransporter, der endlich nach sechs Stunden kommt. Eingequetscht wie eine Sardine erlebe ich die Weiterreise hautnah. Denn die schlafende Frau neben mir sinkt auf meinen Schoß, wo sie es sich gemütlich macht. Erst als meine Pumpe piepend meldet »Insulin geht zu Ende« wacht sie auf und erschrickt. Verlegen schaut sie mich an.
Kritische Patientenversorgung vor Ort
Nach weiteren 1.000 Kilometern auf der zugefrorenen Lena und auf vereisten Schotterpisten komme ich bei Rustam in Khandyga an. Rustam ist wie ich Mitglied im Couchsurfing-Club, wo sich die Menschen weltweit kostenlose Übernachtungs-möglichkeiten geben, und wenn es auf der Couch ist. Bei unserem Mailkontakt stellte sich heraus, dass seine sechsjährige Tochter Schenja seit drei Jahren Diabetikerin ist. Aus meinem Fundus bringe ich ein Zuckermessgerät, Messstreifen und einen Pen (1, Erklärung unten/Red.) mit. Die Freude ist groß, denn in dem kleinen Ort gibt es keinen Diabetologen, der nächste ist im 500 Kilometer entfernten Jakutsk. Dort wird auch alle sechs Monate der HbA1c-Wert (2) gemessen. Der letzte lag bei 9,5! Hier sind die Voraussetzungen für ein diabetisches Kind bei Gott nicht ideal. Wieder einmal stelle ich fest, wie doch der Geburtsort über das Leben entscheidet.
Der verschlafene Ort Oimjakon erwartet mich mit einem mythischen Sonnenuntergang. Die Kälte steht in Nebelschwaden eingehüllt über dem Kältepol. Am nächsten Morgen lese ich am Thermometer minus 63 Grad Celsius. Eingemummelt wie ein Eskimo laufe ich durch den Ort. Plötzlich piept meine Insulinpumpe (3) wie wild. Verdammt, der Schlauch ist steif wie Draht. Er ist eingefroren, hoffentlich bricht er nicht. Ich dachte, unter Daunenparka und zwei Fleecejacken ist er gut geschützt. Vorsichtig packe ich Schlauch samt Pumpe in meine Unterhose – momentan der wärmste Ort. Als der Schlauch aufgetaut ist, rufe ich ein paar Einheiten Insulin ab. Denn das gefrorene Insulin im Schlauch wirkt nicht mehr.
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Anmerkungen der Redaktion:
Pen ist ein Injektionswerkzeug in Form eines dicken Kugelschreibers, zur einfachen Injektion einer voreingestellten Insulinmenge.
HbA1c erlaubt einen Rückschluss auf die Qualität der Blutzuckereinstellung in den letzten acht bis zwölf Wochen. Je öfter und länger die Blutzuckerwerte erhöht sind, desto höher ist der HbA1c-Wert.
Eine Insulinpumpe ist ein kleines, elektronisches Gerät, ungefähr so groß wie eine Scheckkarte, welches leicht am Gürtel oder in einer Tasche der Kleidung getragen werden kann. Die Pumpe ahmt mittels kontinuierlicher subkutaner Insulininfusion die Funktion einer gesunden Bauchspeicheldrüse nach und gibt rund um die Uhr präzise Dosen von schnell wirkendem Insulin so ab, wie es der Körper braucht. Das regelmäßige Spritzen entfällt.
Unterwegs-Sein
Werner (Jahrgang 1956) lebt zusammen mit seiner Frau Herta in Wechingen in einem 700-Seelendorf im Nördlinger Ries (Bayern).
Hier ein Auszug aus der Webseite (www.hwbeck.de):
»1982 wurde mir überraschend Diabetes attestiert. Trotzdem kauften wir zwei Jahre später – unser Sohn war gerade mal drei Monate und unsere Tochter drei Jahre alt – einen kleinen Wohnwagen und brachen zu einer vierwöchigen Tour nach Jugoslawien auf. Zusammen mit den Kindern haben wir die meisten europäischen Länder mit dem Wohnwagen bereist. Nachdem unsere Kinder älter wurden, reizten uns andere Reisemittel, z.B. mit Hundeschlitten in Lappland, ein Elefantenritt durch Kerala in Südindien, im Kanadierboot auf dem Clearwater in Saskatschewan (Kanada) oder mit dem Zweierkajak auf dem Nordpazifik vor der Küste Britisch Kolumbiens, aber auch bequemere Reisemittel wie Bus, Zug, Schiff oder Flugzeug waren uns recht […]
Doch schon bald holte uns die Sehnsucht nach Neuem und Fremdem wieder ein und wir brachen im Herbst 2010 zu unserer längsten und letzten großen Reise um die Welt auf. Dafür wollen wir uns mit Unterbrechungen etwa acht bis zehn Jahre Zeit nehmen – vorausgesetzt, unser Motor Neugier treibt uns so lange vorwärts. Und danach werden wir in die wohlverdiente »Reiserente« gehen!«