[Trotter 192] Gedanken zum Tod von Rüdiger Nehberg

Rüdiger Nehberg und der König der Globetrotter

Vom Konditor zum Abenteurer, vom Survival-Freak zum Menschenrechtler

Von Norbert Liebeck

Am 1. April des Jahres verstarb Rüdiger Nehberg 84-jährig, vielen auch als »Sir Vival« bekannt. Sogar die Tagesschau vermeldete zwei Tage später seinen Tod und würdigte seine Leistungen als Abenteurer und insbesondere als Menschenrechtsaktivist. Somit hatte er für Deutschland und die Gesellschaft eine gewisse Bedeutung, ja er musste sehr wichtig sein. Wer war nun dieser Rüdiger Nehberg?

Wir alle, die wir Globetrotter, Abenteurer und Reisende sind, kennen ihn entweder durch seine Bücher, seine Vorträge, seine medienwirksamen Auftritte und einige haben ihn auch persönlich kennengelernt.

Rüdiger Nehberg wurde 1935 in eine mittelständisch-bürgerliche Familie in Bielefeld hineingeboren. Nichts sprach in seinem Elternhaus dafür, dass er später einmal eine derartige Laufbahn hinlegen würde, die so völlig von der Bürgerlichkeit abwich. Zwar wurde er von seinem Vater angeregt, in Selbständigkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Diesem Rat folgte er, machte eine Ausbildung zum Bäcker und Konditor, wurde Meister und eröffnete Mitte der 60er Jahren eine Konditorei in Hamburg mit bis zu 50 Angestellten. Diese lief erfolgreich, wie er in einem Fernsehinterview konstatierte, aber er fühlte sich nicht bestätigt. Er wollte Abenteuer erleben, wollte an seine eigenen Grenzen gehen, wollte die Welt und sich selbst kennenlernen. Trotzdem gab diese Backstube den finanziellen Rückhalt für seine frühen Abenteuerreisen und seine Survival-Aktivitäten.

Ab Ende der 60er-Jahre befasste er sich mit dem Thema Überlebenstraining und wurde so eine Art Survival-Pionier in Deutschland. Aber auch Nehberg hatte literarische Vorbilder. Kuno Steubens Buch Zu den Goldquellen der der Pharaonen – Allein auf dem reißenden Nil, in dem der Autor seine Floßfahrt auf dem Blauen Nil schildert, die ein spektakuläres Ende nahm, inspirierte Nehberg offenbar nachhaltig.

Ab Anfang der 70er Jahre war Nehberg auf dem Blauen Nil gleich mehrfach unterwegs. Insgesamt drei Mal zwischen 1971 und 1975 war er mit verschiedenen Begleitern mit einem Floß auf dem wilden Fluss und versuchte, ihn zu überwinden. Leider scheiterte dieses Vorhaben in seiner letzten Fahrt spektakulär und tragisch. Sein treuer Begleiter, Fotograf und Kameramann Michael Teichmann wurde nach einem Überfall von einheimischen Rebellen erschossen. Es war für Nehberg ein schwacher Trost, dass die Mörder ausfindig gemacht und wegen Mordes angeklagt wurden.

Abenteuer NehbergWeitere, teils atemberaubende Survival-Aktionen folgten, wie zum Beispiel die Durchquerung der Danakil-Wüste 1977 mit Kamelen gemeinsam mit Horst Walther (heute noch dzg-Mitglied mit der Nummer 11) und Klaus Denart, damals übrigens auch dzg-Mitglied und späterer Mitbegründer von Globetrotter-Ausrüstung. Selbst Nehberg war einige Jahre dzg-ler. Ein Fußmarsch ohne Geld, ohne Nahrung und ohne jegliche Ausrüstung quer durch Deutschland war eine weitere Survival-Aktion von ihm.

In einem Telefongespräch bestätigte mir Horst Walther, dass es Nehberg seinerzeit vor allem um die Erprobung von ursprünglichen Methoden in unwirtlichen und menschenfeindlichen Umgebungen ging. Zudem war er eine Art Gefahrenjunkie, er musste immer seine Grenzen ausloten und quälte sich. Mit diesem »Training« fühlte er sich ab 1980 »gereift«, um auch im Urwald allein klarzukommen.

Schließlich trieb es ihn nach Südamerika. Brasilien war das Ziel. Survival-erprobt wie er war, landete er im tiefsten nordbrasilianischen Urwald und traf auf das indigene Volk der Yanomami. Er war entsetzt über das, was hier abging. Goldsucher in dieser Region führten einen regelrechten Vernichtungskrieg gegen die wehrlosen Ureinwohner. Sie zündeten ihre Dörfer an, töteten die Einwohner wahllos. Das war für ihn ein Schock und ein Schlüsselerlebnis zugleich. »Rüdiger war immer ein mitfühlender Mensch«, bestätigte mir Horst. Er wollte – er musste – helfen. Von der brasilianischen Regierung war seinerzeit keine Hilfe zu erwarten. Also waren andere Wege erforderlich, um auf die Situation der Yanomami hinzuweisen.

Es folgten weitere spektakuläre Aktionen, bei denen Nehberg darauf achtete, dass die mediale Wirkung auf die Problematik im Urwald zielte. Die Welt musste wissen, was im brasilianischen Urwald geschieht. Er war bei der Weltbank, bei der UNO und sogar beim Papst. Wenn das hinlänglich bekannt war, konnten weitere – politische Schritte – angegangen werden.

Jetzt konnte Nehberg seinen Drang, als Überlebenskünstler an die Grenzen zu gehen, mit einem echten Ziel verbinden. Drei Mal überquerte er den Atlantik mit archaischen Fortbewegungsmitteln: Mit einem Tretboot, per Bambusfloß und schließlich auf einer massiven Tanne. Dazwischen war er unentwegt als Vortragsredner tätig, schrieb Bücher und verantwortete auch einen einschlägigen Film. Dieser Einsatz für das Volk der Yanomami und der Bekanntheitsgrad von ihm führten schließlich dazu, dass die brasilianische Regierung –auch auf internationalen Druck – die Menschenrechte der Urbevölkerung schützte. Nehberg hatte gesiegt! Der Wandel vom Survival-Freak, vom »Spinner« und »Insektenfresser«, wie er gelegentlich in diversen Medien bezeichnet wurde, zum Menschenrechtler war vollzogen.

Bestärkt durch diesen Erfolg, sollte er sich – gemeinsam mit seiner Frau Annette – einer weiteren Aufgabe widmen: Bekämpfung der Genitalbeschneidung von jungen Mädchen in Ost- und Nordafrika. In einem Interview bezeichnete er den Begriff Beschneidung als viel zu schwach, er verwendete fortan den Terminus Genitalverstümmelung. Es ist ein brutaler Brauch, auf den er erstmalig bei seiner Danakil-Durchquerung aufmerksam wurde.

Im Jahre 2000 wurde die Organisation Target e.V. gegründet. Dieser Verein organisierte verschiedene Konferenzen in den einschlägigen Ländern, zuerst in Äthiopien, dann in Dschibuti und in Mauretanien. Es ging vor allem darum, islamische Würdenträger auf dieses Thema aufmerksam zu machen, denn die meisten weiblichen Genitalverstümmelungen werden in der islamisch geprägten Welt vollzogen. Die Gespräche fanden stets mit Respekt und auf Augenhöhe statt. Diese Einstellung, die auch den dzg-lern innewohnt, hatte Nehberg schon seit langem verinnerlicht. Da im Koran nichts über die weibliche Genitalverstümmelung geschrieben steht, kann es auch nicht im islamischen Sinne sein, die hilflosen Mädchen einer solchen Qual auszusetzten. Der Durchbruch schließlich erfolgte 2006, als auf einer Konferenz in Kairo, bei der die wichtigsten islamischen Würdenträger zugegen waren, eine Fatwa verkündet wurde: »Die weibliche Genitalverstümmelung ist eine Sünde und verstößt gegen höchste Werte des Islam.«

Doch die Arbeit war noch lange nicht erledigt. Bis in die äußersten Ecken der Region musste diese Kenntnis und dieses Bewusstsein getragen werden. Eine erste Klinik für die Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung, die über Target in Äthiopien, in der Danakil-Region, finanziert und gebaut wurde und nun betrieben wird, ist sicher erst ein erster Schritt, um langfristig diesen schrecklichen Brauch auszumerzen. Nehberg war sich immer bewusst, dass noch viel zu tun ist. Seine Angst war es, dass er nicht mehr alles schaffen würde. Er behielt leider recht. Aber sein Vermächtnis, sein begonnenes Werk lebt weiter, Target wird weitergeführt.

Rüdiger Nehberg und Rudi KleinhenzWir als Globetrotter, die wir alle viel in der Welt herumgekommen sind, die bewusst – oder unbewusst –Probleme, Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Armut gesehen haben, hatten immer das Gefühl, daran ohnehin nichts ändern zu können. So dachte Nehberg anfänglich auch, wie mir von Horst Walther bestätigt wurde. Doch irgendwann kam der Punkt, wo er sich gesagt hat, »Niemand ist zu gering, die Welt zu verändern.« Sein Gefühl für Gerechtigkeit hatte obsiegt. Seine Vision, unterdrückten, hilflosen und geschundenen Menschen zu helfen, hat ihn letztlich angetrieben. Mit seiner Energie, seinem Charisma undseiner Umtriebigkeit hat er viel bewirkt.

In gewisser Weise ist das Lebenswerk von Rüdiger Nehberg ein Vorbild für uns Globetrotter, die wir gereist sind, die Welt kennengelernt haben, aber am Ende nur »konsumiert« haben. Doch viele haben sich nach oder während ihrer Reisen um Projekte oder Aktivitäten gekümmert, haben Schulen, Krankenhäuser oder andere soziale Einrichtungen unterstützt oder sogar organisiert. Das geht, das können wir, selbst wenn es nur im Geringsten ist. Nehberg – »Sir Vival« – ist tot, aber sein Vermächtnis lebt weiter! Und abschließend wiederhole ich einfach noch einmal sein Credo:

»Niemand ist zu gering, die Welt zu verändern.«

www.target-nehberg.de

 

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