Kabul 1967 und 1972 [Historischer Reisebericht]

Zwischen Himmel und Hölle, zwischen Syphilis und Schwarzwälder Kirsch

Kabul 1967 und 1972

Text und Fotos: Gunter Herden, Reisezeit August bis Dezember 1967 und Sommer 1972

Die hier beschriebenen Erlebnisse entstanden auf einer fünfmonatigen Trampreise im Jahre 1967 von Hannover nach Kathmandu und schildern Gunters Aufenthalt in Kabul, in Afghanistan. Sein Rucksack war neben dem Üblichen mit einem blauen Tropenanzug bestückt, leichten, Mokassin-Halbschuhen, weißgebügeltem Oberhemd und Fliege nebst einem Tennisschläger, der oben etwa zwei Zentimeter »schüchtern« herausguckte. Wenn es schon eine Reise von so langer Zeit »mit offenem Ende« sein wird, so wollte er auf unterschiedliche Weise Kontakte knüpfen!

Finanziell war er unterfinanziert, aber kurz nach dem Studium an der TH Hannover unterrichtete er halbjährig an einem Gymnasium in Großburgwedel. Wie sich später zeigte, reichte dieser Ertrag bei sparsamster Lebensführung.

Kabul im September 1967

Was für ein Gefühl! Nach einer 1.071 Kilometer langen Busfahrt von Herat endlich am Busbahnhof in Kabul angekommen zu sein. Wer diese Freude verstehen will, der muss sich in die Lage eines zwei Meter langen Schlaks hineinversetzen, dessen Knie in solch einem engen Bus schnell rot anlaufen. Hervorragend ist allerdings der Zustand der Straße auf der südlichen Route über Kandahar. Sie ist je zur Hälfte von den Russen und Amerikanern mit Asphalt beziehungsweise Beton gebaut worden.

Im Zentrum von Herat mit der Feitagsmoschee

Sofort machen wir uns – zwei Kanadier sind mit dabei – auf die schwierige Suche nach dem Noor-Hotel, von dem mir schon Zwillinge aus Deutschland in Istanbul vorschwärmten: »Für einen Tramper oder Hippie geht an diesem abenteuerlichen Hotel kein Weg vorbei!« Aber in dieser quirligen Stadt Kabul scheint es keinen Menschen zu geben, der dieses Hotel kennt. Nur nach langem Suchen haben wir Erfolg.

Straßenszenen in Kabul 1967

Ein Diener zeigt uns verschiedene Zimmer für einen Übernachtungspreis von 60, 40 und 20 Afghanis (20 Afghanis entsprachen damals etwa 1 DM). Die teuerste Kategorie ist völlig unbewohnt und für meinen Geldbeutel inakzeptabel, denn ich muss mit der täglichen Tagesration von 5 DM auskommen. Der Angestellte wird etwas unruhig, aber er zeigt uns als Nächstes doch noch ein Zimmer für 40 Afghanis – mit mehreren freien Betten. Hier hockt auf dem Fußboden ein Tramper mit kahl geschorenem Kopf, der uns wie ein kleines Kind anlallt – mit einer Haschischzigarette in der Hand. Er will uns wohl sagen, dass seine Bude voll ist. Dicker Qualm sättigt die Luft. Dieser Haschischgeruch ist mir sympathisch, aber ich denke für den nächtlichen Schlaf entbehrlich. Schön, dass der Guide uns noch mehr zeigen will. Er führt uns quer über den Hof, wo hinter Obstbäumen noch eine Hütte sichtbar wird. Der erste Eindruck: es gibt keine Bettgestelle. Zwei Rucksäcke liegen schon auf dem Boden herum. Mehrere Bastmatten, die offensichtlich noch nie gereinigt wurden, wirken abstoßend. Auch hier ist die Luft intensiv haschischgeschwängert. Aber der Liegeplatz kostet nur 20 Afghanis und so nehmen wir ihn.

Links im Bild Mohammed Zahir Schah, König von Afghanistan bis 1973, im Gespräch mit seinem Architekten Horst

Mit einem Deutschen komme ich ins Gespräch. Er ist schon einige Jahre unterwegs und kommt gerade aus Indien. Er erzählt viel Negatives, zum Beispiel das Essen dort: »Ich habe dauernd einen „flotten Otto“ gehabt, aber ich wusste nie, woher.« Unvermittelt zeigt er auf sein Nachbarbett und sagt: »Dort liegt einer mit Pocken, aber das stört hier niemanden. Man gewöhnt sich an Alles. Auch das Mädchen da leidet schon seit drei Monaten an Syphilis und keiner kümmert sich um sie.« Kein wirklicher Trost: Wenn es bei den drogenabhängigen Hippies zum Schlimmsten kommt, dann gibt es die Möglichkeit, auf dem britischen Friedhof in dem vornehmen Stadtteil Sha-Re Nau beerdigt zu werden.

Ich hatte an diesem Abend das Gefühl, dass selbst die Luft zum Atmen krankheitserregend ist. Wir gehen in das zugehörige Restaurant mit dem Gefühl, heute Nacht einen Alptraum zu erleben. Doch hier, in diesem Noor Restaurant, kann ich mich durchaus wohlfühlen. Dreck drängt sich nicht so auf. Später spreche ich draußen auf der Straße einen einheimischen Studenten an, ob man hier irgendwo Tennis spielen könne. Wir gehen zusammen in den nördlich gelegenen Stadtteil Shar-e Nau, da wo noch heute die »Upperclass« mit den westlichen Konsulaten, schönen Wohnhäusern und grünen Gärten lebt.

Tennis in Kabul

Gunter beim Tennis in Kabul

Es ist schon dunkel und wir schauen uns die Tennisanlage an, auf der noch einige Mitglieder unter Flutlicht ihrem Vergnügen nachgehen. Wir trauen uns nicht in das Clubhaus, denn heute ist Samstag und es findet eine Party statt. Sicherlich hätte niemand etwas dagegen gehabt, aber seit Tagen bin ich unrasiert und habe schmutzige Klamotten an. Wenn ich hellseherische Fähigkeiten besessen hätte, dass ich in diesem Haus noch etliche Gelage erleben würde und viele Abende mit einem Herrn Kreutner, der dem König ein großes Teehaus gebaut haben soll, Tennis spielen würde, so wäre ich aus dem Staunen nicht herausgekommen. Ein unschätzbarer Vorteil: wir finden in dem Clubhaus noch ein ordentliches Klosett mit jeder Menge richtigem Klopapier anstatt den bekannten alten Tageszeitungen, sodass sich bei mir ein Anfangsvertrauen einstellt, in dieser Stadt als Tourist willkommen zu sein.

Ziemlich spät komme ich in das »Noor« zurück. Ich steige über vier Leiber hinweg, lege meine Kunststoffunterlage in der hintersten Ecke auf ein freies Plätzchen, darüber meinen Schlafsack, krieche in diesen hinein und bevor ich einpenne, schwöre ich noch zu mir selbst, dass ich morgen ein neues Hotel aufsuchen werde – auch wenn es teurer als eine DM sein sollte.

Haschgeschwängerte Luft und allerlei skurrile Typen im Noor-Hotel

In der vergangenen Nacht musste ich mal raus und entdecke im Haupthaus eine lustige Gesellschaft: Jungen und Mädchen beim Licht einer Petroleumlampe – in Decken und dicken Haschischrauch eingehüllt m – sind ununterbrochen über irgendetwas am Lachen. Es klingt so befreit und glücklich. Eine seltsame, aber sympathische Gesellschaft!

Kaum wache ich am Sonntag, den 1. Oktober 1967 auf, da fragt mich mein Schlafpartner mit seinem tiefsitzenden Husten – offensichtlich ein Engländer: »Have you shit?« Darauf antworte ich: »First of all: Good morning, Sir!« Er geht auf meine gewünschte Anrede nicht ein und sagt nur: »Best time to start!« Und tatsächlich kann ich ihn mit einem ordentlichen Brocken Afghan zufrieden stellen, den ich in einem Hotel in Herat von einem »boy« geschenkt bekam! So groß wie eine Tafel Schokolade, stillte sie mir oft auf dem Weg hierher den Hunger, denn ich hatte eine Pfeife mit entsetzlichem, englischem Shag-Tabak dabei. Doch mit einer Prise Hasch vermischt: gar nicht so übel!

Ich denke: »Fängt ja gut an, dieser Sonntagmorgen.« Diese erbärmliche Situation in dieser schmutzigen Umgebung beunruhigt mich und ich stelle mir die Frage, ob es ratsam sei, mich weiterhin diesem gesundheitlichen Risiko der Ansteckung auszusetzen. Es ist schlicht unmöglich alle Typen zu beschreiben, die sich hier in diesem Hotel aufhalten. Den meisten Spaß bringt ein Däne, der ständig von seinem Begleiter – einem bunt angezogenen Affen mit Hose und Trägern – aufgefordert wird, seinen leeren Rucksack offen hinzuhalten, damit er von der Schulter aus hineinspringen kann. Die Situation ist so etwas wie Zirkusatmosphäre. Der Däne zeigt mir den Impfpass des Affen und meint, dass dieser Pass bei jeder Grenzüberquerung unbedingt gebraucht wird: »Ohne diesen Pass kommen wir in kein anderes Land.« Und dann stoße ich hier wieder auf Nicole mit ihrer Begleitung, einer Französin aus Nordafrika. Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Ich zitiere aus meinem Tagebuch von einer früheren Begegnung während dieser Reise:

Nicole und ihre Französin aus Nordafrika

Nicole (rechts) und ihre Freundin

Ich sitze an der afghanischen Grenze fest. Drei Stunden Aufenthalt benötige ich für die Erledigung aller Passformalitäten und dem Verhör bei der Kriminalpolizei, die am entgegengesetzten Ende des Dorfes liegt. Eine Fahrgelegenheit nach Herat wird es heute nicht mehr geben. Ist aber halb so schlimm, denn ich habe bereits beim Durchqueren dieser kleinen Ortschaft ein unscheinbares Hotel gesichtet. Ich lerne zwei junge Frauen kennen, die ohne Geld reisen und einen sehr mitgenommenen Eindruck machen. Sie kommen aus Frankreich und suchen eine Mitfahrgelegenheit nach Herat. Sie schimpfen auf die Perser, die sie unterwegs mitgenommen haben; dabei sind diese beiden ganz schön frech und direkt gewesen. Die hellhäutige, aufgedunsene Nicole meint gleich zu mir, nicht ganz uneigennützig: »I like you!« Dann sieht sie im Passzimmer Alberto, den sie von Teheran her kennt und bekommt einen heftigen Lachkrampf. »Alberto is a joke!« ruft sie in den ganzen Raum und ich denke: »Er sieht wirklich aus wie eine Vogelscheuche.« Nicole fährt fort: »I like him, but he hates me!« Die ganze Szene wirkt auf mich wie im Kino gespielt.

Alberto, in Mexiko geboren, begleitete mich im Zug bereits von Teheran nach Maschhad. Er ist schon vier Jahre unterwegs und war nach einem dreiwöchigen Aufenthalt gegen den Willen der Ärzte aus dem Krankenhaus ausgebüxt. Er trägt momentan noch einen »Schatz« von fünf US-Dollar bei sich. Die beiden Französinnen bekommen Schwierigkeiten, nach Afghanistan hineingelassen zu werden. Doch es kommt zu einem Kompromiss: In den Formularen werden die beiden bei englischen Touristen mitaufgenommen. Damit ist das Problem für die Grenzer gelöst!

Zusammen mit Udo, meinem jetzigen Begleiter, bekommen wir im Hotel das letztmögliche und »komfortabelste Zimmer Afghanistans«, wie uns der Wirt, ein schlauer Fuchs, erklärt. Spät abends schleicht sich Alberto in unser Zimmer, ohne vom Personal gesehen zu werden. Er bekommt die beiden Ledersessel zum Schlafen. Die Zimmertür wird mit einem Strick festgezurrt, denn ein funktionierendes Schloss gibt es nicht in diesem »komfortabelsten Zimmer«. Am frühen Morgen, noch bevor Udo und ich aufgestanden sind, macht sich Alberto lautlos davon. Wir treffen ihn im Bus nach Herat wieder. Ebenso sind die beiden Engländer und die drei Amerikaner dabei, die über Nacht Nicole und ihre Begleiterin in ihrem Zimmer auf der Erde haben schlafen lassen.

Die beiden außergewöhnlichen Frauen werden auf einen Trip so lange warten müssen, bis sie irgendwann von irgendjemandem mitgenommen werden.

Übrigens: von Maschhad nach Herat zu trampen, ist weniger ratsam, da es so gut wie keinen Auto-Grenzverkehr gibt. Es sind wirklich schwierige 373 Kilometer!

Brief aus Herat in die Heimat: Erlebnisse mit drogenabhängigen Blumenkindern

In Herat angekommen, lege ich einen Ruhetag ein. In einem Brief vom 26. September an meine Geschwister daheim schreibe ich hier unter anderem:

»Ich muss den Brief unterbrechen, da gerade zwei Mädchen, Nicole mit ihrer Freundin, in unser Hotelzimmer hereinkommen. Sie verfolgen Udo und mich schon seit Tagen, da wir ihnen mal ein Abendbrotessen spendiert hatten. Sie kommen, um Haschisch zu rauchen. Sie sind diesem Rauschgift völlig verfallen. Auf ihren Armen und Beinen reihen sich den Venen entlang ein Einstich nach dem anderen (auch: Heroin). Sie sind schon ganz blau von den vielen Versuchen, die daneben gingen. Als wir sie zum ersten Mal trafen, war deshalb die erste Frage, ob wir Medizinstudenten (!) seien.

Nicole fläzt sich gleich auf mein Bett, ihre dreckigen Füße auf mein Kopfkissen gelegt und dreht sich eine Haschischzigarette. Danach raucht sie nicht nur, sondern bröselt etwas Haschisch auf und steckt es sich in die Nasenlöcher. Haschisch bekommt man hier in jeder Apotheke und es sieht so aus wie schokoladengroße Pumpernickelscheiben (ein Zentimeter dick). Sie lassen sich leicht mit einem Streichholz erwärmen und in kleine Stücke zerbröckeln. Diese kann man zusammen mit dem Tabak in einer Pfeife rauchen.

Ich werde wohl heute Nacht ganz tief in meinen Schlafsack kriechen müssen, so dass oben nur noch meine Nasenspitze rausguckt. Aber, lieber Leser, zu Eurer Beruhigung: Damit Ihr nicht denkt, Ihr seht mich nicht mehr wieder: Ich weilte heute hier in Herat in einem türkischen Bad! Wunderbar! Es geht wieder aufwärts! Hoffentlich werden wir die Beiden heute noch los! Und bezogen auf Nicole mit ihrer Freundin: Ich sag es nicht gerne, aber unter »Blumenkinder« habe ich mir früher etwas Anderes vorgestellt!«

Eine andere Seite von Kabul

Immer mehr erwacht in mir der Drang, auch noch eine andere Seite Kabuls kennenzulernen. Ich denke, dass neben meinem Tramperleben irgendwo in mir auch ein »Abtrünniger« steckt: Ich ziehe mir meinen nicht mehr knitterfreien, stahlblauen Anzug an und gehe zum erstbesten. Mit Schere und Kamm sehe ich hinterher zwar nicht besser, aber doch ordentlicher aus. Danach esse ich zu Mittag in einem europäisch anmutenden Restaurant, dem »Khaiber«. Dort schlage ich hungrig zu: Mit allem Drum und Dran für immerhin 60 Afghanis. Ein passables »Chicken Pulao« mit Hühnchenfleisch, Basmatireis, Kardamom, etwas Kümmel, schwarzem Pfeffer und einer Zwiebel. Hinzu kommt eine Sauce mit Bohnen, Möhren und Rosinen.

Anschließend geht es wieder zum »International Club of Cabul«. Eine etwas ältere very British aussehende Dame beschäftigt sich gerade am Schwarzen Brett:

»It’s possible to play tennis here?« »Where are you coming from?« »Germany«. »Oh, yes! Come with me!« Sie führt mich zu einer jungen deutschen Familie, die gerade bei Kaffee und Kuchen sitzt. »Ja, setz dich doch! Dies ist meine Frau Linda und da sitzt Oliver. Ich bin Horst. Wie wär’s mit einer Schwarzwälder Kirschtorte?« »Oooh, sehr gerne! Kann ich denn hier auch Tennis spielen?« »Kein Problem!« Ich sehe etwas später, wie Horst aufsteht und für den Abend am Schwarzen Brett einen Platz reserviert.

Später einmal plaudert er, welche Gedanken er bei unserem ersten Zusammentreffen hatte: »Wenn der in seinem Rucksack eine komplette Tennisausrüstung von Zuhause nach Kabul schleppt, dann kann er bestimmt Tennis spielen. In einigen Tagen beginnen die Vereinsmeisterschaften und ich habe noch keinen Doppelpartner.« Als wenn mich der Stern von Bethlehem hierhergeführt hätte! Von diesem Moment an war ich praktisch Familienanschluss. Horst war vor einigen Jahren, kurz nach seinem Examen als Bauingenieur und seinem dreijährigen Studium als Architekt in Berlin, als Tramper in Richtung Indien hier in Kabul hängen geblieben. Zuerst arbeitete er in Kabul für die Firma Hochtief und jetzt beim »Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit« an Entwicklungsprojekten.

Nach »getaner Arbeit« an der Schwarzwälder Kirschtorte fährt mich Horst zum Noor Hotel und ich begleiche meine »Rechnung«: einen viertel Dollar (1 DM) für eine Nacht auf dem Lehmfußboden mit leichtem Haschisch-Geruch. Das ist in meinem Leben der niedrigste Preis einer Hotelübernachtung! Originalton Horst: »In einem solchen Saustall habe ich nie übernachtet, obwohl ich früher auch nicht wählerisch war.« Mir kommen diese Worte so vor, als wenn ich von ihm mit dieser Aussage den Ritterschlag erhalten hätte! Wir fahren zurück zum Klub, essen Abendbrot und spielen anschließend – für mich zum ersten Mal unter Flutlicht – von 20 bis 22 Uhr Tennis. Die Plätze bestehen aus festem Lehmboden, ein guter Ersatz für Rasen oder roten Sand. In den folgenden Tagen spiele ich mit Horst fast jeden Tag. Er übt sich in diesem schönen Sport seit knapp drei Jahren; dafür, so denke ich, recht gut. Er sagt, dass man hier in Kabul, vom Klima her, manchmal bis zum Weihnachtsfest spielen kann.

Die Abende verbringe ich zusammen mit ihm und seiner Familie. Aber nicht nur das. Auch mittags bin ich meist zum Essen eingeladen. Dann geht es in die Stadt oder den Klub. Ich habe mir sagen lassen, dass er heutzutage »Deutscher Klub« (!) genannt wird. Eines Abends ergibt sich ein besonderer netter Kreis. Der Manager des Klubs, aus Bonn stammend, holt sein Schifferklavier und es kommt Stimmung auf. Passend dazu eine erste interessante Begegnung mit »Whisky-Wally«, der mir gleich zur Begrüßung die Du-Bruderschaft anbietet. Und nicht nur das: er verabreicht mir zusätzlich, einem zurückhaltenden Norddeutschen, einen kräftigen, unappetitlichen Schmatzer auf beide Wangen. Er soll ein trinkfreudiger Prinz sein, der einige Jahre in Österreich verbracht hat. Er läuft zur Höchstform auf, wenn er mit seiner speziellen Mimik romantische, russische Lieder singt. Ja, dieser etwas verkommene »Whisky-Wally« berührt mein Herz.

Am Donnerstag ist Tanzabend. Ich hole meine Fliege jetzt schon zum zweiten Mal aus dem Rucksack. Die erste Gelegenheit ergab sich auf dieser Reise während einer Einladung im Hilton in Teheran, wo ich beim Abendessen rein zufällig auf die deutschen Tennis-Spitzenspieler Helga Schultze, Ingo Buding und dem Berliner Harald Elschenbroich stieß. Sie nahmen hier an den Internationalen Tennismeisterschaften teil. Zu einem dritten Mal »mit Fliege« kam es in diesen fünf Monaten nicht mehr. Der Tennisschläger kam allerdings noch ein weiteres, letztes Mal in Rawalpindi zum Einsatz: Gegen die damalige Nummer 8 Pakistans mit einem ehrenhaften Ergebnis: 6:8! Welch ein Erlebnis! Gegen ihn hatte ich spielerisch keine echte Chance. Doch zum Trost lud er mich nachher zum Abendessen und anschließend in den Film »Psycho« von Alfred Hitchcock ein.

Von meinen »artfremden« Gegenständen im Rucksack namens Schläger, Fliege, Anzug und Mokassin verabschiedete ich mich später in der Jugendherberge von Neu Delhi, um sie dann einige Wochen später auf meiner Rückreise wieder abzuholen.

Der Leser möge mir meinen gedanklichen Ausflug entschuldigen.

Kehren wir zurück: An zwei Abenden spielen wir Skat. Natürlich geht es auch um Geld. An einem Abend gewinne ich 40 Afghanis, am anderen sogar 190. Wenn ich mir überlege, dass ich dafür zwei Tage länger »on tour« bleiben könnte … Um viel Geld geht es am Abend des 7. Oktobers. Nachdem ich mit Horst wieder von 20 bis 22 Uhr die »Klingen« gekreuzt hatte und im Klubhaus dem Durst löschenden Bier zuspreche, nehme ich an einem Glücksspiel teil, dem horse race: Auf einem großen Spielfeld mit 42 Feldern »rennen« sechs etwa einen Meter große, hölzerne Pferde um die Wette. Ein Mädchen würfelt aus, um wie viele Felder das jeweilige Pferd weiterrücken darf. Gewonnen hat dasjenige Pferd, welches als erstes exakt mit der Zahl 43 im Ziel angekommen ist. Also: Wenn ein Pferd auf dem Feld 39 steht, dann muss die 4 fallen, andernfalls muss es warten. Das erhöht ungemein die Spannung, denn es kann, je nach Höhe des Einsatzes, um sehr viel Geld gehen. Nur wer auf das Siegerpferd gesetzt hat, gewinnt. Also eine Platzquote, wie beim richtigen Pferderennen, gibt es nicht. Dieses Spiel kommt aus England.

Im Südosten Afghanistans: Das Dorf Paktia, Mittelpunkt der deutschen Entwicklungshilfe

Horst bringt mich unmittelbar nach unserer ersten Begegnung in das von mir sogenannte »Deutsche Haus«. Es handelt sich hier um eine Übernachtungsmöglichkeit für deutsche Entwicklungshelfer und ihrer Familien, die hauptsächlich im südöstlichen Grenzgebiet Paktia tätig sind, um beim Aufbau der Infrastruktur zu unterstützen. Ansiedlungen, Forst- und Landwirtschaft sind die wichtigsten Programme. Nach ihren Erzählungen ist dort wahre Pionierarbeit gefragt. Ihre Hauptaufgabe ist es, die afghanische Bevölkerung zu begeistern und anzulernen. Es bietet sich an, dorthin mit einer alten DC3 zu fliegen – für sage und schreibe nur 225 Afghanis (etwa 11 DM).

Der gesamte Verkehr von Kabul nach Istalif führt über diese archaische Holzbrücke

Auf der »Hauptstraße« in Istalif, die als »Keramikstraße« bekannt ist

Ich komme mir in diesem »Deutschen Haus« vor, als hätte ich das große Los gezogen. Nicht nur das! Auch einen Hausdiener gibt es, der mir das Frühstück jeden Morgen sehr früh an das Bett bringt, obwohl ich »Frühstück im Bett« überhaupt nicht liebe. Aber hier in dieser Umgebung genieße ich es in aller Ausführlichkeit, mit einem riesigen Pott Tee – very british. Linda und Horst kümmern sich sehr um mich. Wir machen Ausflüge in die Umgebung, zum Beispiel in das mittelalterliche Dorf Istalif. Seine Menschen sind bekannt für ihre Kunstfertigkeiten bei der Herstellung von Keramiken.

Die Geheimnisvolle und der Autor in der Umgebung von Istalif

Noch im selben Jahr (1967) legt der deutsche Bundespräsident Heinrich Lübke den Grundstein für die neue »Amani-Oberrealschule«. In der Oberstufe, also den Klassen 11 und 12, unterrichten deutsche Lehrer in naturwissenschaftlichen Fächern in deutscher (!) Sprache. Hier wuchsen sehr bekannte afghanische Persönlichkeiten heran. Auch andere Industriestaaten bauten ebenfalls Schulen in Kabul – mit Ausnahme der Engländer. Das liegt wohl daran, dass die Afghanen ihnen gegenüber nach der »verpfuschten« und gewalttätigen Kolonialzeit starke Vorbehalte haben.

Scheu, Neugierde und Freude beim Anblick des Fotographen

Kabul 1972

Fünf Jahre später, 1972, sehe ich Kabul wieder. Zusammen mit meiner frisch angetrauten Christel nutzen wir die fünfwöchigen Sommerferien, um eine Einladung von Linda und Horst anzunehmen: Dieses Mal nicht zu Fuß, sondern mit unserem sehr reifen, sehr alten VW Käfer. Einen Käufer dafür in Kabul zu finden, war nicht schwierig: Ein Kabuler Teppichhändler wollte ihn für seine Hamburger Ehefrau, damit sie in dieser quirligen Stadt die nötigen Erfahrungen sammeln konnte. Nur mithilfe der deutschen Botschaft konnten wir das Auto aus dem Zoll herausholen. Grund: Unser alter VW hatte einen Austauschmotor, der nicht in den Papieren vermerkt war. Das bedeutet hier: Der Motor ist geklaut. Eine schwierige Situation, die nur mithilfe der Deutschen Botschaft gemeistert konnte. Ein ganzseitiger Eintrag in meinem Reisepass, dass wir trotzdem ehrenwerte Menschen sind, erinnert daran.

Der 2. Abschied von Kabul, aber nicht von Linda und Horst, sollte für immer sein. Auf dem Flughafen ahnte ich von den kommenden Tragödien dieser oft geschändeten Stadt – und des Landes – noch nichts. Ich dachte mir, da fährst du bald wieder hin. Auch die Kabuler Berge im Hintergrund können süchtig machen. Das Foto mit dem Sonnenschirm zeigt, dass der Abschied noch optimistisch verlief.

Unterwegs-Sein

Gunter wurde 1939 in Oppeln in Oberschlesien (heute Opole in Polen) geboren und wohnt in Hannover. Er ist pensionierter Gymnasiallehrer. Den Reisebazillus lernte er zum ersten Mal kennen, als seine Mutter sich mit ihm als Fünfjährigem und seinen drei Brüdern, 1945 auf den Weg machte, um von Schlesien in Richtung Westen zu gelangen. Schließlich landeten sie in Hannover

Seine ersten größeren Reisen in die Türkei ab 1960 und weiter nach Asien waren gekennzeichnet durch chronischen Geldmangel; so stand er 1960 auf der Galatabrücke in Istanbul mit 1,20 DM in der Tasche – ohne Rückfahrkarte. Diese Geldknappheit legte die Art der Fortbewegung fest: Autostopp oder Fahrrad.

Prägend wirkte sich nach dem Studium die hier beschriebene halbjährige Tramp-Reise mit Tennisschläger und dunkelblauem Anzug im Rucksack nach Kathmandu aus – damals eine der Hippierouten – auf der er Mitte Dezember 1967 völlig »auf den Hund gekommen« war und es seinem älteren Bruder zu verdanken hatte, dass er von Kabul nach Hause fliegen konnte, um nach der Rückkehr gemeinsam mit seinen Geschwistern Weihnachten feiern zu können.

In späteren Jahren lag sein Schwerpunkt des Reisens, zusammen mit seiner Frau Christel, auf Indien: sechs Monate – eingeschlossen die Reise nach Varanasi zum 30-jährigen Jubiläum unseres Globi-Vereins. Ergänzend sei eine fünfwöchige Rucksacktour in den Süden Indiens mit seiner damals 15-jährigen Tochter Sandra während der Schulferien erwähnt.

Ein beruflich bedingter fünfjähriger Aufenthalt in Kolumbien gab Gelegenheit, zusammen mit seiner Familie intensiv mehrere Länder in Mittel- und Südamerika zu bereisen. Gunter ist langjähriges dzg-Mitglied.

Gunter heute
Nach oben