Große Freiheit 1975 bis 1979 [Historischer Reisebericht]

Die große Freiheit 1975 bis 1979

Durch Asien und Australien bis Neuseeland – hin und zurück

Text und Fotos: Jörg Lorimer, Reisezeit 1975 bis 79

Einführungstext von Andreas Junger

Im August 2019 war ich für vier Tage mit dem dzg-Außenteam um Rudi Kleinhenz, unterstützt durch Peter Hawlitschek und Thomas Mieling, bekannt als der »Spalter«, weil er aus dem mittelfänkischen Städtchen Spalt stammt, beim OTA-Globetrotter Rodeo am Erzberg in der Stadt Eisenerz (Steiermark) in Österreich, wo wir unseren Club auch im Ausland repräsentiert und bekannt gemacht sowie um Mitglieder geworben haben.

Wie auf jedem größeren Globetrotter-Treffen, wie zum Beispiel beim Fernreisemobiltreffen in Enkirch an der Mosel, bei der Adventure North- oder Southside aber auch bei unserem Sommertreffen in Hachenburg, stehen neben dem persönlichen Austausch am Lagerfeuer, Zelt oder Fahrzeug auch immer einige Vorträge auf dem Programm. So saßen wir nach getaner Arbeit am dzg-Pavillon im Vortragszelt und lauschten gebannt dem Vortrag von Jörg Lorimer.

Nachfolgend nun der Text zu seinem Thema Die große Freiheit, der in kürzerer Form auch seiner Homepage www.lorimer.de zu entnehmen ist. Im Nachgang hat Jörg noch viele Ergänzungen geliefert (sowohl an Text- als auch an Bildmaterial), die hier weitgehend berücksichtigt wurden.

Vorgeschichte

»Bierkutsche« München Schwabing 1974: Je mehr wir soffen desto mutiger wurden wir. »Wie? Der Weiber wegen nach Bangkok fahren?« »Mit einem alten VW-Bus?«

»Auf unbeschränkte Zeit?« »Seid ihr noch dicht?« Hippietrip, Marokko, Kathmandu, Everest-Treck, Reif für die Insel, Scheißjob, raus aus der Beziehung – jeder von uns hatte seine eigenen Gründe und Träume.

Heute, circa 45 Jahre später, haben die Bilder geschichtlichen Wert. Die  Buddhastatuen aus dem 6. Jahrhundert in Bamiyan (Afghanistan) von  den Taliban zerstört, die Freak Street (früher Hippiegegend) in Kathmandu geteert, das alte Kloster Tengpoche im Khumbu-Gebiet abgebrannt, Alt-Singapur mit seinen Bambusbuden abgerissen, die irren Bikinis in Sydney durch Badeanzüge getauscht, die Maori-Denkmäler in Neuseeland mit Glanzlack verschandelt, die Naturbrücke London Bridge in Australien eingestürzt, der lehmige Trans-Sumatra-Highway geteert, die schönen Strände Thailands voller Hotels, Ladakh voller Autos, organisierter Massentourismus überall, Terrorgefahr und militärische Sperrgebiete. Vieles hat sich zum Nachteil verändert. In sehr kurzer Zeit. Die Schäden sind auf Dauer. Auf der anderen Seite muss ich eingestehen, ich bin Teil dieser Entwicklung und Klimakatastrophe.

Türkei – Anatolien (Oktober 1975)

Dieter, Hubert und Knut mit dem Bulli

Wir vier – Dieter, Hubert, Knut und ich – die es geschafft haben, alles hinter sich zu lassen: Arbeit, Studium, Wohnung, Versicherungen, Auto, Telefon, Eltern, Partner, Freundin – und Tschüss. Der VW-Bus ist unser neues Zuhause. Ohne Anschrift. Ist das ein Gefühl! Das Schlafen ist gewöhnungsbedürftig. Wie die Sardinen in der Dose. Nachts das Schwitzwasser im Auto. Es ist nämlich kalt draußen. Ab

Ankara sogar eiskalt. Ab dort hat uns auch niemand mehr verstanden. Und wir die anderen auch nicht. Wo kommen bloß all die Sprachen her?

Die neue Fahrtechnik kapieren wir schnell: Hier gilt das Recht des Stärkeren. Grundsätzlich hat jeder Lkw Vorfahrt. Dann Busse. Dann Autos. Dann Ochsengespanne. Dann Esel, Roller- und Radfahrer, zuletzt Fußgänger. Mehrmals werden wir von der Straße gedrängt. Den Kameraden-Eid auf Leben und Tod haben wir nicht geschworen, im Gegenteil! Eher rette sich wer kann. Wir sehen uns in Bangkok.

Istanbul ist unser Eintritt in den Orient. Orient, darunter verstehe ich die engen quirligen Gassen voller Menschen und Geschäfte und fremdartiger Musik. Ab heute singt der Muezzin sein Morgengebet. Doch um die Zeit sind wir alle noch im »Bett«. Besonders beeindruckt mich die Lage auf unzähligen Hügeln mit Blick auf das blaue Meer. Und das riesige Kuppelgewölbe der Hagia Sophia, von den Römern im 6. nachchristlichen Jahrhundert als Kirche gebaut, jedes Erdbeben überstanden, ein Meisterwerk der Baukunst, Erbe der Menschheit. Etwas steril, es ist ein Museum. (seit 2020 islamische Moschee)

Ankara ist schon um einiges kälter. Ungemütlich. Wenig Atmosphäre. Es liegt im gebirgigen Inland. Einige Menschen verstehen etwas Deutsch. Zu wenig um uns die türkische Esskultur zu erklären. Wir gehen einfach ungefragt an die dampfenden Töpfe, schauen hinein und sagen »ok … ok … ok«. Gemeint ist von dem da, von dem da und von dem da. Reis, Fleisch, Gemüse. Je weiter wir nach Osten kommen, desto ärmer leben die Menschen. Der gewaltige Ararat leuchtet mit Neuschnee. Ein bitterkalter Wind weht über die verdörrte Landschaft. Der Grenzübertritt bei Erzurum war kein Problem.

Iran (Oktober 1975)

Die Armut setzt sich in Persien fort. Das ist doch eines der ölreichsten Länder? Teheran, der Verkehr ist chaotisch. Wir können viele Wegweiser nicht entziffern.

Die Menschen, gemeint sind die Teppichhändler, sind unangenehm. »Du Deutschland? Billig! Eigene Fabrikation! Antik! Grantie! Schicken Deutschland!« »Please come in! One cup of tea – for free – no money – no business!« Ständig in Begleitung eines Teppichhändlers. Ich möchte meine Ruhe haben und meine Fotos machen! Haut ab! Im Museum für antike Kunst ist es ruhig. Über 2.000 Jahre alte Steinmetzarbeiten in höchster Vollendung.

Chaharbagh-Moschee in Isfahan

Dafür ist Isfahan umso angenehmer. Prachtmoscheen aus dem 17. Jahrhundert mit riesigen Torbögen und großartigen Kuppeln, teilweise gekachelt, viele mit Blumenornamenten bemalt und glasiert, zeugen von Macht und Reichtum. Gartenanlagen mit Springbrunnen verschönern die Stadt.

Chaharbagh-Moschee, Scheich Lutfullah-Moschee, Schah-Moschee, Imam Reza-Moschee. Wie märchenhaft können Architektur und Handwerk sein? Auf Jahrhunderte faszinierend! Was muss das für einen Eindruck machen, wenn man aus der Wüste kommt? Und Wüste ist überall. Die Menschen leben unter spartanischen Bedingungen.

Maschad, Gebäudekomplex mit dem Imam-Reza-Schrein

Die Armut und Kargheit in Richtung Maschhad wird noch offensichtlicher. Es ist erschütternd, wie rückständig die Menschen leben. Bergdörfer ganz ohne Strom. Bilder des amtierenden Schahs Mohammad Reza Pahlavi und seiner Ehefrau, der Kaiserin Soraya, samt 100ten von Dienernbeim Skiurlaub in im mondänen St. Moritz kommen in Erinnerung.

Afghanistan – Hindukusch (November 1975)

Freitagsmarkt in Herat

In Herat, der Grenzstadt nach der iranisch-afghanischen Grenze, fällt uns sofort die Rückständigkeit auf. Kaum Autos, dafür mehr Esel. Restaurants ohne Stühle. Man – sprich Mann – sitzt einfach auf dem Boden und isst mit einer Hand, der Rechten. Die Menschen – sprich Mann, denn Frauen müssen sich verschleiern (Burka) – strahlen auf angenehme Art Stolz aus. Sie schauen dir in die Augen.

Sonnenuntergang auf dem Weg nach Kandahar  

Wir wollen zu den Buddha-Statuen von Bamiyan und zu den blauen Seen von Bande Amir im Hindukusch, die unwirklich sein sollen. So nehmen wir die einzige ausgebaute Straße des Landes über Kandahar nach Kabul. Alles Wüste. Von was leben die Menschen? Ab Kabul geht es durch enge Schluchten in die Berge. Unsere »Puderdose« (total verstaubt) schluckt in 3.500 Metern Höhe plötzlich 25 Liter Benzin auf 100 Kilometer! Mit leeren Reservekanistern und dem buchstäblichen letzten Tropfen erreichen wir unser Ziel Bamiyan. Manchmal braucht man Nerven!

Band-e Amir, circa 3.000 Meter hoch, in der Nähe von Bamiyan

Bamiyan ist ein staubiges Dorf aus verstreuten Lehmhäusern. Es gibt ein einziges Restaurant, das »Pink Restaurant«. Tische gibt es nicht, auch keine Stühle, keine Fenster, keine Heizung, es ist wirklich arschkalt, und nichts ist Pink – dafür gibt es aber reichlich Hasch. Schwarzer Afghane – vom Allerfeinsten. Ein Afghane spielt auf einem dreisaitigen Instrument, eine Art Mandoline – einmalig schön und unwirklich ist das Ganze. Von dem gefährlichen Ruf Afghanistans haben wir wenig bemerkt. Sie klauen halt wie die Raben. Aber wo denn nicht auf unserer Erde?

10.000 Kilometer von Zuhause – ich spüre langsam die Große Freiheit!

Nepal – Khumbu Himal (Dezember 1975)

Nepal war bis in die 1960er Jahre vom Rest der Welt abgeschottet. Alle Grenzen dicht. 1975 führt eine einzige öffentliche Straße von Indien (Grenze Raxaul) hinauf in das Königreich Nepal. Am Pass des Mahabharat-Gebirges bleiben wir stehen: Vor uns erstreckt sich der sagenumwobene Himalaya! Eine unendliche Kette eisbedeckter Gipfel.

Im Manaslu-Gebiet, Nepal

Kathmandu! Eines der Traumziele der Hippies jener Zeit. Der Haschhändler will uns ein Bullit verkaufen, eine einen Meter lange Granate, aus reinem Hanf gepresst. Die Hippies aber sind weg. Die Nächte unangenehm kalt. Nebelschwaden.

Es ist mein persönlicher Traum, den am meisten umkämpften Berg der Welt zu sehen! Mount Everest. Vier Wochen wollen die Jungs in Kathmandu auf mich warten. Vorsichtshalber nehme ich alle meine Sachen mit. Ich nehme einen Bus in die Kleinstadt Barabise an der Straße nach Tibet und laufe los, südlich des Hauptkammes des Himalaya nach Osten. Es gibt weder Guest Houses noch Lodges noch Hotels. Wie ist das möglich, auf dem Weg zum berühmtesten Berg der Welt? Ich übernachte bei Einheimischen, handele mir Läuse ein. Aus Verzweiflung entlause ich mich im eisigen Gletscherwasser. Es ist Dezember.

Am 24.12.1975 erreiche ich den Kala Patthar Südgipfel, mit 5.545 Meter Höhe ein kleiner Nachbarberg des höchsten Berges unseres Planeten (8.848 Meter). In Blue Jeans, bei eisigem Wind, das Wasser in der Flasche gefroren. Ich kann kein Foto machen vor Zittern. Den Heiligabend verbringe ich in einem Stall aus Naturstein in Pheriche, einer Sommer-Alm, zusammen mit der Sennerin, einer Tibeterin, und einem Franzosen, der schon Monate im Himalaya unterwegs ist. Nein, elektrischen Strom gibt es hier nicht. Die Frau macht uns Bratkartoffeln! Auf Yakmist-Feuer gebraten. Eine Ölfunzel verbreitet schummriges Licht. Doch irgendwie weihnachtlich?

Es sind die ersten Weihnachten ohne meine Eltern. Wochenlang der Höhe, der Kälte, der Einsamkeit ausgesetzt, sowie den Lebensbedingungen der Einheimischen, werden deutsche Werte relativ.

Weihnachtsessen in Pheriche am Everest-Trek (Bild links) – Blick auf Lhotse und Ama Dablam (Bild rechts)

Von Lukla aus mit seiner ungeteerten Start-Landebahn nehme ich einen Flieger zurück nach Kathmandu. Die Freunde sind noch da – beziehungsweise wieder da. (Sie waren in der Zeit in Bangkok gewesen und haben dort ein Haus für uns organisiert.) Alle treffen sich im Swiss Restaurant. Die FFB-ler aus der Türkei, unterwegs im VW-Bus. Derek, der Holländer, aus Teheran mit seinem alten Mercedes, Hans im Glück aus München und … so als hätten wir uns verabredet! Eine nachgeholte Weihnachtsfeier, ein paar Pfeifchen, ein paar Tauschgeschäfte, und nichts wie weg aus dem kalten, nebeligen Kathmandu.

Indien – Ostküste (Januar 1976)

Paharganj in Delhi

Indische Braut am Taj Mahal

Neu-Delhi, Benares, Kalkutta. Indische Straßen und Städte sind der Wahnsinn. Die heiligen Kühe haben Narrenfreiheit – und Vorfahrt auf den Straßen! Wir wollen die Ostküste Indiens nach Süden fahren. Relative Einsamkeit und im Januar schön warm – fast paradiesisch!

Puri, Stadt am Meer. Wir staunen nicht schlecht: Weite, saubere Sandstrände ohne Hotels, ohne Touristen. Fischer fahren stehend in ihren schmalen Booten hinaus. Kein Platz zum Sitzen. Ungeübte würden über die erste Welle nicht hinwegkommen. Der Fang wird abends am Strand verteilt. Riesige Hummer werden in Körben am Kopf weggetragen. Kein Automotor, kein Dieselaggregat stört den Sunset.

Strand bei Konarak am Golf von Bengalen

Viele Inder kennen kein Privatleben in unserem Sinne. Knut macht einen Halbkreis im Sand um unser Auto. »Bis hier und keinen Schritt weiter!!« Die Linie wird respektiert. Bubaneshwar, Konarak – welch sagenhaft verzierte Hindutempel aus dem Altertum! Tamil Nadu, der südlichste Bundesstaat Indiens. Es wird heiß. Auroville, Mahabalipuram, Tiruchirapalli, die Tempeltürme werden immer höher. 30 Meter, 40 Meter, 50 Meter. Alle sind voller Figuren in den buntesten Farben. Kitsch? Nein, einfach bunt und naiv. Die Götterwelt der Hindus ist unerschöpflich. Weiter geht es nach Madurai, eine quirlige, heiße Großstadt ohne Klos – und ich habe Magenkrämpfe.

Inderin in Orissa (Bild links) – Inder kennen keine Privatspäre (Bild rechts)

Prozession in Tiruchirapalli, Tamil Nadu

Ceylon (Januar 1976)

Ceylon. Hier gibt es endlich die Strände mit Kokospalmen, aus denen die Träume sind. Die buddhistische Kultur hat wunderschöne Figuren und Tempelhöhlen geschaffen. Polonnaruwa, Dambulla, Sigiriya – uralte Stuckmalereien von Reichen und von Schönen. In Dambulla, einem Höhlenkloster, wird gerade der elektrische Strom installiert. Die Bet- und Meditationshöhle ist ohne Fenster – nur eine Öffnung an der Decke der Höhle lässt etwas Licht herein. Die Mönche meditierten im Finstern. Mannshohe Buddhastatuen in Meditationshaltung – sitzend mit verschränkten Beinen – schmückten den Raum. Mit einer Baulampe kann ich den Raum ausleuchten und fotografieren. Freundliche Menschen, unzählige Palmen, naturbelassene Sandstrände, warmes Winterklima – das tropische Paradies? Nein, keine Weiber.

Strand von Hikkaduwa

Dann ist es so weit: Der Sprung über den Indischen Ozean. Eine Autofähre bringt uns von Madras (Chennai) in Indien nach Penang, Malaysia. Endlich sind wir in Südost-Asien. Mit Vollgas fahren wir die läppischen 1.200 Kilometer nonstop nach Bangkok.

Thailand – Bangkok (Februar 1976)

Das Nachtleben dieser gigantischen Metropole muss man gesehen haben, denn ansonsten kann man sich nicht vorstellen was hier los ist. Kontaktprobleme gibt es keine. Wir mieten eine einfache Villa mit Garten. Die Puppen versorgen uns mit Ganja bis die Wände glühen. Sie stecken uns an. Sie beklauen uns. Wir haben Ärger mit der Polizei.

High in Bangkok

Im März fahren wir zum Songkran-Fest nach Chiang Mai. Thai-Frauen in nie gesehenen Trachten wecken meine Neugier. Die Freunde haben keine Lust. Ich nehme ein Boot flussauf, marschiere los. Allein. Meo, Lisu, Akha – Volksstämme ohne Kontakt zur Neuzeit. Kein Guest House, kein Strom. Kein Imbiss, kein Laden, kein Leitungswasser. Es macht keinen Spaß ohne touristische Infrastruktur, wenn man ahnungslos losmarschiert und nicht vorbereitet ist. Ausgehungert finde ich den Weg zurück.

Songkran in Chiang Mai (Bild links) – Chiang Mai Beauty (Bild rechts)

Mir geht die Kohle aus. Was tun? Ich will nicht nach Hause zurück! Dort droht ein lebenslanges Arbeitsverhältnis! Eine unwahrscheinliche Chance gibt es. Ich trampe die Ostküste Malaysias entlang nach Singapur. Dort suche ich ein Reisebüro, das mir ein noch nicht bezahltes Flugticket für ein Visumsgesuch bei der australischen Botschaft vorstreckt. Es klappt! Der Wahnsinn! Ich bin unterwegs nach Australien! Mit einem Ausreiseticket nach Neuseeland!

Australien – Ostküste (Juli 1976)

Auf dem langen Flug nach Sydney kommen mir Zweifel. Ich besitze 60 Australische Dollar und kenne keinen Menschen. John und Jackie finden mich schlafend im Flur des Mietblocks in dem sie wohnen und laden mich ein, anstatt mich hinauszuwerfen! Sie nehmen mich mit zum Segeln im Sydney Harbour und bieten mir Geld an! Wir sind heute noch Freunde. Diesen beiden Menschen verdanke ich den positiven Verlauf der Großen Freiheit. Die australische Polizei hätte mich als mittellosen ausländischen Landstreicher umgehend eingelocht und abgeschoben.

Ich bin fest entschlossen, die nächstbeste Arbeit anzunehmen, am besten auf dem Bau, denn ich hatte zu Hause eine Kurzlehre als Maurer gemacht und danach Architektur studiert. Sydney ohne eigenes Fahrzeug ist hoffnungslos. Die öffentlichen Busse fahren spät und brauchen lange. Also weg von hier auf‘s Land. Aber wohin? Wohin denn?? Ich trampe nach Norden, dort ist es zumindest wärmer im Winter. Eine Woche fahre ich Tag und Nacht per Anhalter bis Townsville, Queensland. Endlich ist es schön warm! Heute habe ich mir ein Bier verdient! Im Pub lerne ich einen Ein-Mann-Bauunternehmer (builder) ohne Fuhrpark oder Maschinen kennen.

Queensland – Townsville (September 1976)

Ich bekomme einen Job als Hilfsarbeiter am Bau in Queensland. Es ist harte körperliche Arbeit. Ich bin nichts mehr gewöhnt und kaufe mit meinem ersten verdienten Geld ein Schrott-Fahrrad für den Weg zur Arbeit. Es ist absolut exotisch, das Radfahren in Townsville – jeder freilaufende Köter jagt mich, will mich beißen.

Magnetic Island, Townsville, Queensland

Ich möchte mir Maurerwerkzeug kaufen – ohne Erfolg. In Australien wird anders gearbeitet. Nur Sichtmauerwerk, nur Akkordarbeit, in der Sonne über 60 Grad. Ich kann mit den australischen Maurern nicht mithalten. Ich arbeite ohne Arbeitserlaubnis, habe Angst erwischt und abgeschoben zu werden. Mein Glück ist das australische System: Keinen interessieren irgendwelche Papiere oder Sozialversicherungsnummern. Können musst du den Job – und wollen oder du bist gleich wieder ohne. Nach vier Monaten ist das Visum abgelaufen. Ich muss das Land verlassen. Zurück in Sydney, zahle ich das geborgte Geld an John und Jackie zurück. Ausreise nach Auckland, Neuseeland.

Neuseeland (November 1976 bis 1977)

Neuseeland wirkt so europäisch klein! Und so unglaublich grün! Auf der Nordinsel leben die Maoris ihre Traditionen noch ohne Tourismus. Es gibt naturbelassene Thermalgebiete, nirgendwo ist etwas abgesperrt, nirgendwo wird Eintritt verlangt. Im Tongariro-Nationalpark gibt es weiße Vulkane, von oben bis unten mit Schnee bedeckt!

Oben am Mount Ruapehu soll es einen dampfenden Kratersee geben! Der Schnee ist hart gefroren, ich komme gut vorwärts. Im steileren Gelände auf Schuhspitzen. Weit drüben sehe ich noch zwei Gestalten. Die haben das Gleiche vor wie ich! Am Kraterrand angekommen liegt der Kratersee unter mir. Er ist eisfrei, während rings herum alles vereist ist. Auf den Gipfel hinauf traue ich mich nicht. Dazu bräuchte ich Steigeisen. Ein Ausrutscher würde im Kratersee enden. Beim Abstieg lerne ich die beiden anderen Gestalten kennen: Der Eine kommt aus Inzell, der Andere aus Ruhpolding! Landsleute aus der Nachbarschaft!

Maori-Statuen von Tutanekai und Hinemoa (Bild links) – Mount Egmont (Bild rechts)

Ich borge mir im Chateau Tongariro Hotel Ski aus und steige auf den rauchenden Ngauruhoe (2.300 Meter) im Tongariro-Nationalpark. Die Abfahrt ist ein Genuss im besten Firnschnee. Die Ski-Besteigung des Vulkan Mount Egmont (heute Taranaki, Maori), 2.500 Meter zusammen mit Peter Quinn, einem örtlichen Skilehrer, ist ein unvergessliches Erlebnis. Er meint wir brauchen nichts mitzunehmen, wir sind Mittag wieder zurück. Peter fährt mit dem Auto hinauf ins Skigebiet von New Plymouth. Seine Ostflanke, ein riesiger Hang, glitzert in der Morgensonne.

Der Anstieg ist ein richtiger Wadlbeißer. Auf (Zehen-) Skischuhspitzen steigen wir 800 Höhenmeter einen immer steiler werdenden, zu Eis gefrorenen Schneehang hinauf. Mehr als einen Zentimeter lässt sich der Schuh nicht einschlagen. Die Ski auf der Schulter sind sperrig, stoßen immer wieder in den Schnee vor mir. Einmal hätte ich sie fast verloren. Ich habe nur eine Hand frei um mich am Berg abzustützen. Zum Festhalten gibt es nichts. Ein Rückblick durch die Beine nach unten macht mir bewusst, einen Rückzug gibt es nicht. Nur einen Rückflug.

»Aaahh«, unglaublich, der Rand des Kraters zu meiner Linken ist ein mehrere Meter hoher Wulst aus Eis und Schnee, vom Wind und Sturm geformt. Der Gipfel selbst ist wie der Stöpsel einer Flasche, ein großer Schneehaufen, etwas höher. Bergsteiger am Gipfel, ausgerüstet mit Steigeisen, Pickel und Seil meinen, das sei Selbstmord, unser Vorhaben. Beim Abfahren ist die Ostflanke des Taranaki angefirnt und sicher zu fahren. Jedoch die Ausgesetztheit oben bei der Einfahrt in den riesigen Hang, das war einfach zu viel Adrenalin. Meine Beine zittern. Ich bin völlig erschöpft und dehydriert. Am ersten Kiosk an der Zufahrtstrasse, ich schütte mir fünf Cola hintereinander rein, erfahre ich, dass noch nie jemand zuvor diesen Hang mit Ski befahren hat.

Auf der Südinsel Neuseelands herrscht im November Frühling. Der Heaphy Track von der Nordküste zur Westküste ist ein einfacher Pfad durch neuseeländischen Busch und Hochmoor im Urzustand. Kaum bekannt und kaum begangen, und nass. Der Busch an den Hängen an der Westküste blüht gelb und rot. Über den dunkelgrünen Regenwald ragen vereiste Alpengipfel – wenn es zufällig nicht regnet. Von Queenstown aus geht es auf dem Routeburn Track zum Milford Sound, einem tief eingeschnittenen Fjord. Und weiter geht`s per Anhalter nach Süden. Jetzt, wo ich schon da bin, will ich bis an das Ende der Welt! Die Kiwis sind unglaublich hilfsbereit. Es kommt vor, dass jemand von sich aus anhält und fragt, ob man mich mitnehmen könne, wenn ich die Straße entlang marschiere.

Invercargil, eine Kleinstadt am Ende der Welt. Gegenüber liegt die Antarktis. In der Jugendherberge fällt mir ein Mädchen auf, das gerne lacht. Lachen, das ist es, was mir fehlt! Alleine unterwegs zu sein ist selten lustig. Doch sie war nicht alleine unterwegs.

Am nächsten Tag sehe ich das lustige Madl auf der Fähre vom Bluff nach Stuart Island. Ich lerne Lindy kennen. Sie gibt mir ihre Adresse in Auckland. Ich werde sie vor meinem Abflug besuchen. Es ist Liebe auf den ersten Blick! Und das in Bluff, dem verregneten Kaff am südlichen Ende Neuseelands – am tatsächlichen Ende der Welt. Wir wollen schriftlich in Kontakt bleiben. Sie träumt von einem kurzen Overland-Trip und einem Job in England. Overseas experience, wie man es Down Under nennt. Doch das muss warten. Sie studiert noch, und ich bin wieder einmal blank. Ich muss Arbeit finden, und das in Australien, der besseren Möglichkeiten wegen.

Lindy vorn links

Australien – der Süden (April 1977 bis Feb 1978)

Ab und zu braucht man eben Glück. Zurück in Australien.  Am Flughafen in Sydney angekommen gehe ich einfach durch das Gate »Australiens and New Zealanders only«. Die müssen nämlich nicht durch die Passkontrolle. Jetzt bin ich zwar illegal im Land, aber das weiß ja niemand.

Almonta Beach mit meiner Honda, South Australia

Ich arbeite am Bau an der Südost-Küste von New South Wales. Kaufe mir ein altes Honda-Geländemotorrad um mobil zu sein. Aus dem Skilehrer-Job in Thredbo in den Snowy Mountains wird nichts. Der Schnee bleibt wieder einmal aus. In Streaky Bay an der Südküste Australiens bekomme ich einen Sommerjob auf einem kleinen Thunfischfänger vor der Küste Südaustraliens. Wir fischen mit kräftigen Angeln, jeder einzeln für sich. Manche Thunfische sind so groß wie ich!

Es hätte so schön sein können – drei Monate draußen auf See bei Wind und Wellen. Doch ein paar von der Crew sind der Abschaum. Trevor kommt jedes Mal groß raus wenn er einen an Deck um sich schlagenden Hai mit dem Vorschlaghammer erschlägt. Nur um dann das tote Tier zurück ins Meer zu werfen. »They eat tuna« ist seine Begründung. Als der Kapitän anfängt, Seehunde aus Langeweile und Übungszwecken von den Felsen zu schießen haue ich ab. Auf einem kleinen Schiff kannst du niemandem aus dem Wege gehen.

Mein letzter Job: Schwellenleger bei Dowerin in Westaustralien. Jeder Cent wird gespart. In Perth kaufe ich für 500 Aussie-Dollar (damaliger Umtauschkurs 1 A$ = ca. 4 DM) ein 12 Jahre altes englisches Auto, einen Hillman Super Minx Kombi. Ein bescheidenes Auto mit viel Bodenfreiheit und großem Kofferraum.

Australien – Western Australia (Februar bis Juli 1978)

Hier in Perth, der Hauptstadt von Westaustralien, beginnt, die Große Freiheit Teil 2. Mit 3.000 Australischen Dollar im Sack. Zusammen mit Lindy, der abenteuerlichen Kiwi, die ich im Jahr zuvor kennengelernt habe. Sie will auch die Welt entdecken. Und das zusammen mit mir! Ich bin so stolz auf mich und mein Mädchen. Leider läuft nicht alles ohne Diskussion. Lindy, eine sehr selbständige Frau mit 22 und ich, ein bisschen ein Macho aufgrund der langen Zeit in harten Männernjobs. Der Mann sagt wo es lang geht! Ja denkste, Wunschdenken.

Es ist Herbst, Zeit für den warmen Norden. Wir fahren von Perth aus den Highway 1 der Westküste entlang nach Norden. Unterwegs nehme ich noch einen Anhalter mit, Chris aus Minnesota. Der war eigentlich auf Arbeitssuche. Doch dann blieb er drei Monate bei uns. Wir schlafen jede Nacht in unseren kleinen Zelten. Oder direkt im Freien unter dem Sternenhimmel. Am liebsten im weichen Sand in einem der trockenen Flussbetten. Das Übernachten kostet uns nichts! Jeden Abend machten wir ein Lagerfeuer und kochten mit jaffle iron, einem gewölbten Toasteisen, in das man eine gebutterte Scheibe Toast legt, Essen einfüllt wie Salami, Käse, Dosenfisch, Gurken, Zwiebeln und Tomaten, eine zweite gebutterte Toastscheibe oben drauf legt, die beiden Eisenhälften zusammendrückt und ins offene Feuer legt. Oder Kartoffeln in Alufolie.

Termitenhügel mit unserem Hillman in West Australia

Wir machen Canyoning in den irren Schluchten der Hammersley Range (heute Karijini-Nationalpark), klettern an den Wänden, schwimmen in den Wasserlöchern im sauberen Wasser. Wir überstehen ein Unwetter an der Küste der Kimberleys nördlich von Broome, das Zelt weggespült, sieben ungeplante Tage abgeschnitten im Niemandsland. Ein einsamer Leuchtturmwärter hilft uns mit Wasser und Fisch, sodass wir nicht Not leiden müssen.

In Fitzroy Crossing reiße ich beim Nachziehen die Ölschraube des Getriebes ab, das Getriebeöl schießt heraus. »You have a problem«, meint der Tankwart. Keine Werkstatt hat eine englische Gewindeschraube. Die meisten Autos sind japanisch. Alles ist an das metrische System angepasst. Das Auto ist kaputt. Mein/unser Traum der unbeschwerten Freiheit ist ausgeträumt. Man will es einfach nicht begreifen. Wegen einer einzigen Schraube? Ein Farmer, der zum Tanken kommt und unser Pech mitbekommen hat, meint so beiläufig, man könne im Schrott nach alten Wasserleitungen schauen. Früher sei alles aus England importiert worden.

Im herumliegenden Schrott im Gebüsch hinter der Tankstelle finde ich ein altes, entsorgtes englisches Wasserleitungsrohr mit Endstöpsel. Mit der Kraft der Verzweiflung gelingt es mir, das festsitzende Endstück abzuschrauben. Nein, das glaubst Du jetzt aber nicht: dieser Endstöpsel hat genau den Durchmesser und das Linksgewinde für mein Getriebe! Ich schraube den Wasserleitungsstöpsel rein in den Getriebeblock, lasse Öl einfüllen – wir sind wieder fahrbereit! Autoreparatur im Outback. Wie, das glaubst Du nicht, soviel Glück? Ich glaube es ja selbst nicht.

Australien – Northern Territories (August/September 1978)

Nach so viel Glück werde ich übermütig. Wir wagen den Tanami Track, ein Abkürzer von Halls Creek nach Alice Springs im Zentrum – eine 1.000 Kilometer einspurige Piste ohne Siedlung, ohne Tankstelle, mit Tankmöglichkeit an einer cattle station (Rinder-Ranch). Wir bestaunen den Wolf Creek Crater, einen riesiger Meteoritenkrater. Bei den Granites, das sind Haufen von abgerundeten Felsen, schlagen wir unser Lager auf. Bei Morgengrauen beginnt es zu tröpfeln.

Eine riesige Wolkenbank über uns wird von der aufgehenden Sonne dunkelrot angeleuchtet, dann feurig gelb. Ein paar Fotos müssen schon sein. Staubstraßen werden bei Regen augenblicklich rutschig und für unser Auto unpassierbar. Wir haben Glück. Es regnet hinter uns, aber nicht auf unserem Weg! Der Track ist ok, steinig, Bodenrillen, aber keine weichen, sandigen Stellen. Es wird Abend. Es wird Nacht. Wir füllen den Reservekanister in den Tank und fahren, bis unser treues Auto stehen bleibt. Wir zittern förmlich mit den letzten Benzintröpfchen mit und beten um jede Meile (englischer Tacho).

Wir wissen nicht wo wir sind. Totenstille. Wir können nur warten. Um 6 Uhr früh, es dämmert bereits, hören wir Motorengeräusche. Ein Lkw mit einem großen Benzintank auf der Pritsche! Nachschub für eine Aborigine Reservation! Die schwarzen Männer halten kurz den Benzinschlauch in unseren Tank und fahren weiter, ohne einen Cent zu nehmen. So viel Glück gibt es doch gar nicht. Es waren noch 25 Meilen (circa 40 km) bis zum Stuart Highway und 50 Meilen bis zur Tanke in Alice Springs.

Regen am Ayers Rock in trockenen Red Center von Australien

Dann endlich am Ayers Rock (indigener Name der Aborigines: Uluru) angekommen, regnet es den ganzen Tag. Der Pub ist übervoll. So eine Scheiße! Die Rundstraße ist nur mit Allrad zu befahren. Wir gehen zu Fuß. Was für ein riesiger Felsen! Wasserfälle am Uluru! Wer glaubt denn so was? Tage später blüht die Wüste. Ein Meer von gelben Blüten. Natürlich steigen wir die 300 Höhenmeter hinauf. Oben spiegelt sich die untergehende Sonne in zahllosen Wasserlöchern.

Wir schwimmen in den vollgelaufenen Schluchten der Mac Donnell Ranges. Auf der Fahrt nach Darwin im tropischen Norden entdecken wir Wasserkaskaden. Herrliche Wasserfälle und niemand da außer uns. Warmes Wasser. In Arnhemland stoße ich beim Herumsuchen nach Fotomotiven auf Totenköpfe von Aborigines (Grabstellen, heilige Orte, die nie ein Uneingeweihter hätte sehen dürfen nach der Tradition der Ureinwohner). Alles ist so aufregend! Rückblickend auf Australien bin ich mir sicher, dieses unbeschwerte Vagabundenleben im Outback zählt zu meinen schönsten Erinnerungen überhaupt. Wochenlang am Lagerfeuer sitzen, das leise Zirpen der Grillen, dieser unbeschreibliche, unfassbare Sternenhimmel, ohne viel Planung, immer neue Naturwunder entdeckend. (Es gab 1978 noch keine offiziellen Nationalparks im Outback). All das ohne Angst haben zu müssen überfallen zu werden. Ok, es gibt eine Menge Fliegen und Moskitos und ein paar giftige Tierchen, doch die sind alle abgehauen. Der ganze Outback ist offen, 8.000 Kilometer ohne eine Grenze. Ich werde zum totalen Aussie, infiziert auf Lebenszeit.

Doch ein Problem habe ich die ganze Zeit. Was passiert bei meiner Ausreise? Ich lebe seit eineinhalb Jahren ohne Visum in Australien und somit illegal. In Darwin, am letzten Tag vor Abflug kommt ein einziger Interessent, legt die geforderten 500 Aussie-Dollar auf den Tisch und fährt mit unserem unglaublichen Hillman Superminx davon. Ich habe gar keine Zeit meinem Hilly nachzuweinen. Lindy und ich verabschieden uns von Chris. Er hat kein Geld um mit uns zu kommen.

Am Flughafen in Darwin reiche ich dem ersten Zollbeamten meinen deutschen Pass, der voller Ein- und Ausreisestempel ist. Er deutet mir weiterzugehen. Ein zweiter Zollbeamter blättert durch meinen Pass und gibt ihn mir zurück. Ok, ich kann durchgehen zum Flugzeug und einsteigen. Doch plötzlich verlangt ein Zivilbeamter meinen Pass zu sehen, blättert alle Stempel im Pass durch und bemerkt mein zwei Jahre abgelaufenes Australien-Visum. Ich kann sehen, wie er mit steinerner Miene überlegt. Ein langer Augenblick, in dem meine ganze große Freiheit zusammenbricht. Jetzt endet meine große Freiheit im Gefängnis. Doch dann gibt mir der Zivile meinen Pass zurück und wünscht mir eine gute Reise: »Piss off!«

Indonesien (Oktober bis Dezember 1978)

Von Darwin im Norden Australiens sind es nur zwei Stunden Flug bis Bali. Welch ein Kontrast! Statt Staub, Busch, Steine und Menschenleere plötzlich Kokospalmen, Häuser aus Bambus, grüne, wundervoll harmonisch angelegte Reisterrassen und zierliche Menschen bei der schweren Feldarbeit. Überall Radfahrer, Tempel, bunte Feste und Gamelan-Musik! Alle Frauen tragen hübsche Beinkleider mit einem passenden Oberteil dazu. Die bunten Segelbote haben das Segel verkehrt, die Spitze nach unten!

Typische Segelboote in Bali

Ab jetzt heißt es in öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Anstrengend, dafür aber billig und abenteuerlich. Java ist überbevölkert, heiß und dreckig. Das Essen ist gewöhnungsbedürftig. Viel Erdnusssoße. Yogyakarta ist eine Wucht. Wir besichtigen zwei riesige Tempelanlagen aus hinduistischer Zeit (Prambanan) und aus buddhistischer Zeit (Borobudur). Die Vulkane in der Gegend sind eine Besonderheit. Mount Bromo ist schön, ein erloschener runder Krater mit viel buddhistischem Drumherum. Doch der aktive Vulkan Merapi zieht mich geradezu magisch an. Er raucht aus seinem Gipfel! Ein aktiver Vulkan! »Auffi muas i, i muas i, muas!« Lindy bleibt am Kraterrand zurück, während ich durch die Schwefelschwaden zum Gipfel auf über 2.900 Meter steige. Warum soll der Vulkan gerade jetzt in die Luft gehen?

Mit einer Fähre wollen wir nach Celebes/Sulawesi. Deck class, an der frischen Luft. Doch das Deck ist voll besetzt. In Indonesien heißt das: du kannst dich nicht einmal mehr hinsetzen geschweige hinlegen. Doch die Leute rücken zusammen und machen uns Weißen etwas Platz. Lindy wird ständig angestarrt. Niemand spricht englisch.

Laut Fahrplan soll die Fähre heute fahren. Tut sie aber nicht. Und den Tag danach auch nicht. Und den Tag danach wieder nicht. Die Schiffsmotoren sind abgeschaltet. Das heißt es gibt kein fließendes Wasser. Auch nicht auf den Toiletten. Es gibt auch keine Bordküche auf dem Schiff. Die Einheimischen wissen um indonesische Fahrpläne und haben Verpflegung dabei. Manche laden uns ein. Viele Menschen lächeln uns an und bieten uns bis zum Auslaufen des Schiffes Reis mit Gemüse und Wasser an. Wir lernen ein Wort indonesisch, das ich nie vergessen werde: »jam garet«, Gummizeit, welch treffender Begriff.

Auf Sulawesi besuchen wir das Torajaland und die Gräber von Lemo. Ich bin enttäuscht. Habe mir mehr erwartet. Die Rückfahrt nach Java wollten wir nicht noch einmal auf so einer Fähre machen. Im Hafen von Ujung Pandang finden wir einen Lastensegler nach Surabaya, aus großen Baumstämmen zusammengebunden. Der Kapitän spricht kein Wort Englisch. Er zeigt auf das Reservesegel auf Deck, unseren Schlafplatz. Eine Handbewegung zum Mund bedeutet Essen und Trinken. Der Preis für die Überfahrt wird auch mit Händen geklärt.

Drei Tage segeln wir am offenen Meer ohne Motorengeräusche, ohne Radiolärm wie sonst überall, nur das Knarzen des Mastes, das Plätschern der Bugwelle und das Säuseln des Windes. Es ist heiß, die Sonne steht senkrecht, der Wind bringt die Kühlung. Wir lesen, wir schauen, wir lassen uns treiben, in eine Zukunft die viel verspricht. Die zwei Mann Besatzung wagen es nicht uns anzusprechen, nicht mal angaffen tun sie uns. Das tut so gut in so einem überbevölkerten Land. Wir segeln direkt auf die untergehende Sonne zu. Und plötzlich wird Indonesien zum Traum.

Weiter geht es zusammengequetscht in öffentlichen Verkehrsmitteln durch Java.

Indonesien – Sumatra (Dezember 1978)

Dann setzen wir nach Sumatra über. In Palembang wird Lindy schwer krank. Eine richtige Magen-Darm Infektion. Ständig Kotzen. Die Hotelbesitzerin flippt in der Nacht aus, schreit herum, wir müssen raus, hier im Haus darf Lindy nicht sterben, Polizei. Es ist Pilgerzeit, kein Hotel zu bekommen, »no room«, alles ausgebucht. Dann erwischt es auch mich. Wir verbringen ein paar harte Tage in Palembang. Man will doch alles mal erlebt haben?

Wir wollen an das andere Ende der Insel Sumatra, in den Norden, Weihnachten am Tobasee – und das in der Regenzeit. »Trans Sumatra Highway open?« »Yes, open«. 38 Stunden nonstop von Palembang nach Jambi. Im voll besetzten Bus. Fahrzeuge werden mangels Brücken auf Holzflößen per Strömung über die breiten Flüsse übergesetzt. Neben jeder Landestelle gibt es eine hölzerne Plattform auf Höhe des Wasserspiegels. Diese Plattform dient als Toilette. Der Fluss nimmt alles mit. Ein ganz normaler Vorgang, der keinerlei Beachtung findet. Nicht so bei Lindy. Aus Erfahrung hat sie einen Rock angezogen. Alle bleiben stehen, alle drehen die Köpfe, die wartenden Busse neigen sich zur Seite, … die Männer sind doch überall gleich.

Von Jambi weiter in die Berge nach Bukittinggi. Totaler Stop mitten in der Nacht. Alle Fahrzeuge stecken fest. Verkehrsstau im Dschungel. Meter für Meter winden sich die Busse weiter. Unglaubliche Bilder tun sich bei Tagesanbruch auf. Alle Fahrzeuge, Lkws und kleine und große Busse stecken im Lehm, in einer Art zwei Meter tiefen Lehmgrube. Fast völlig manövrierunfähig. Das muss ich fotografieren. Ich muss raus in den knöcheltiefen Dreck.

Ausweichmanöver auf der Strecke von Jambi nach Bukittinggi (Bild links) – Unser Bus im tiefen Schlamm (Bild rechts)

Der Ablauf ist folgender: Ein Beifahrer schlägt eine Eisenstange in die »Fahrbahn«, ein anderer führt das Drahtseil durch die Aussparungen der Hinterräder und macht es fest. Der Fahrer gibt Gas. Die Hinterräder drehen durch, das Drahtseil wickelt sich am Hinterrad auf, spannt sich, der Bus macht einen Ruck nach vorne, manchmal einen Meter, manchmal nur 30 Zentimeter und steckt dann wieder fest. Das Spiel beginnt von Neuem. Dabei gibt es keine allgemeine Fahrtrichtung. Jeder versucht sein Glück auf jeder Seite. Und dabei schimpft niemand! Niemand rastet aus weil er plötzlich einen Lkw gegen sich stehen hat. Es wird einfach irgendwie ausgewichen, links oder rechts vorbeigequetscht.

Am Nachmittag beginnt es zu regnen. Für die 600 Kilometer von Jambi nach Bukittinggi brauchen wir zwei Tage im Bus. Den Äquator haben wir nicht gesehen, aber erlebt. Unser Ziel ist der Tobasee im Norden Sumatras, die Insel Samosir. Hier sind wir Traveller unter uns, welche Erleichterung. Eine richtig entspannte internationale Traveller-Gemeinschaft. Statt Alkohol zu trinken wird eben geraucht. Same same but different. Mehr gibt es nicht zu tun. Resümee zu Indonesien: Aufgrund der Überbevölkerung ist Indonesien das nervlich anstrengendste Land bisher.

Malaysia und Singapur (Januar 1979)

Nach einer kurzen Fahrt mit einer Fähre von Medan aus sind wir in einer anderen Welt. Malaysia ist sauber, wesentlich mehr Verkehr, alle Straßen an der Küste sind geteert. Wir wollen nach Singapur, des Shoppens wegen. Und es ist wahr. Es ist ein Fress- und Einkaufsparadies. Sauber, günstig, westlich, chinesisch-malayisch. Ich kaufe mir ein Teleobjektiv für meine Minolta. Ab jetzt habe ich vier Objektive zu schleppen.

Thailand – Koh Samui (Februar 1979)

Wieder in Thailand! Freundlich zurückhaltende Menschen, gutes Essen, schöne Strände. Ein Tipp aus Tony Wheelers Southeast Asia on a Shoestring führt uns auf Phuket an den ruhigen Strand Karon Beach mit ein paar Bungalows. Wir wollen relaxen, »Get away from it all«. Ohne irgendwelche fliegenden Händler. Ohne ständig angestarrt zu werden wie in Sumatra. Ein typisches einfaches Restaurant aus Holz und Bambus ist das einzige Gebäude am Strand, abgesehen von ein paar Bungalows – ein Sonnendach aus Bast, alle Seiten offen, Tische mit Stühlen im Sand. Kein WC, aber dafür Strom. Und somit kaltes Bier! Vollkommene Ruhe am Abend. Kein Motor, traumhaft schön. Kann Freiheit schön sein!

Auf Koh Samui

Koh Samui ist gerade vom Tourismus entdeckt worden. First Bungalow, so nennen sich die Hütten. Viele Europäer laufen einfach nackt herum. Für Einheimische ist dies die absolute Geschmacklosigkeit. Man stelle sich das bei uns vor, die Touristen laufen am Tegernsee nackt herum. Bangkok ist plötzlich viel zu hektisch und laut. Der Weg nach Indien über Land ist immer noch gesperrt: Birma ist das Problem, heutiges Myanmar. Wir müssen fliegen: Bangkok – Rangun – Kathmandu.

Nepal (April 1979)

Nepal hatte drei Jahre zuvor einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Kathmandu ist dieses Mal voller Touristen. Hippies sind von bunt gekleideten Travellern mit Kleingeld ersetzt worden. Es grüßt niemand mehr – man schaut aneinander vorbei. Die Szene hier ist viel anonymer als in vorigen Ländern. Die schummrigen Traveller-Cafés sind mit bunten Leuchten und Kerzen dekoriert und nach außen abgeschottet. Man ist ungestört. Guter Kaffee, starker Chai und richtig gute Torten! Dazu westliche Rockmusik!

»Rauchen« auf offener Straße, Kathmandu

Ich will Lindy die Ursprünglichkeit des Himalayas zeigen und für die Berge begeistern. Die Annapurna-Runde ist eben erst für Trekking freigegeben worden (seit Herbst 1978). Wir nehmen einen Bus nach Pokhara und wandern los. Ahh, diese Bergketten, diese einfachen Bergdörfer, die hübschen, lachenden Nepalesinnen!

Zwei Wochen später, in Manang, einer Siedlung von Tibetern in 3.500 Metern Höhe fängt es an zu schneien! Wie schön! Doch Lindy ekelt sich von Tag zu Tag mehr. Häuser ohne Strom, ohne Waschgelegenheiten, das Klo ein Loch im Steinboden mit einer Konservendose für das eiskalte Wasser. Dreckige Tibeter-Gesichter, manche den ganzen Winter nicht gewaschen, rotzende und spuckende Menschen überall, zusammen mit kranken Tieren im einzigen Wohn-Schlafraum.

Nepal – Annapurna

Es gibt im Tal von Manang, dem Zustieg zum Thorongpass von Pokhara aus entlang dem Marsyangdi River, noch keine Infrastruktur für Tourismus wie Strom, Lodges, Guesthouses, Verpflegung, Trinkwasser. Sieben Tage stecken wir in Manang fest bis sich eine Spur im Schnee findet die Richtung Thorong La führt. Der Thorong La ist der Pass zwischen dem Tal von Manang und dem Tal des Kali Gandaki Rivers. Er ist 5.416 Meter hoch. 1.900 Höhenmeter sind zu überwinden in dünner Luft, mit all unserem Gepäck, unser gesamtes Hab und Gut.

Freundlicher Tibeter in Manang (Bild links) – Annapurna North Face (Bild rechts)

Das Gelände ist unübersichtlich, immer wieder gibt es abzweigende Einschnitte, ohne Wegweiser, ohne Steinhaufen oder Stangen zur Orientierung. Wir folgen einfach der Spur im Schnee. Wir schaffen den Pass nicht. Am späten Nachmittag kommen wir an einem Felsüberhang vorbei und richten uns auf Felsen für die Nacht ein. Kurz vor Einbruch der Dämmerung stößt noch ein Paar aus England zu uns. Sie sind auch eine Woche in Manang aufgehalten worden, doch wir haben uns nicht gesehen!

»Muktinaaaaath!« Ein Schrei der Erleichterung. Unter uns liegt das Tal des Kali Gandaki Flusses, rechts das Hochland von Mustang. Die ersten Hütten, der Weiler Muktinath. In einem Hirtenzelt dampfen die Töpfe! Seit Wochen hören wir wieder mal Deutsch. Traveller aus Europa treffen wir von nun an immer wieder. Die Verständigung ist gar nicht so einfach. Die sehen alles mit Urlauber-Augen, »unvorstellbar« oder »sagenhaft« höre ich immer wieder. Für mich allerdings, nach vier Jahren in der Welt unterwegs, der ich so viel gesehen und erlebt habe, ist fast alles »normal« geworden.

Von nun an geht’s bergab. Dafür aber gegen den Wind. Das öde Tal des Kali Gandaki Flusses verläuft von Nord nach Süd, zwischen den 8.000ern Annapurna und Dhaulagiri hindurch, was wie eine Düse wirkt. Vor allem nachmittags stemmen wir uns gegen einen Staubsturm, der die Zähne knirschen lässt. Das Trekking macht plötzlich keinen Spaß mehr. Lindy will nicht mehr.

Kultischer Tanz im Phyang-Kloster nahe Leh in Ladakh, Nord-Indien

Es folgen Indien, Lahul, Zanskar, Kaschmir, Ladack, Pakistan. Zurück in Kathmandu, bucht Lindy einen Flug nach London. Sie hat die Nase voll vom Herumziehen. Den ganzen Sommer wandere ich alleine durch den westlichen, indischen, hinduistischen Himalaya. Von Manali nach Keylong, durch Lahul bis in das islamische Kaschmir und buddhistische Ladakh.

Abschluss der Großen Freiheit und Rückreise

Ich treffe niemanden mit gleichen Interessen. Immer öfter frage ich mich nach dem Sinn des ewigen Herumziehens. Von Rajastan aus, ein Bundesstaat im Westen von Indien, nehme ich einen öffentlichen Bus nach dem anderen. Ich will nur noch nach Hause. Ich bin wieder mal fast blank. Ich rechne inzwischen wie die Einheimischen, jeder Pfennig wird überlegt.

Straßenszene in Jaipur (Bild lienks) – Wir teilen uns ein Chillum, Rajastan (Bild rechts)

Trucks in Balutschistan, Pakistan

Shit! Afghanistans Grenzen sind dicht. Wo die Amis weg sind wollen die Russen rein. Über den Süden Pakistans gibt es die einzige Möglichkeit Afghanistan zu umfahren und auf dem Landweg nach Hause zu kommen. Das Grenzgebiet zum Iran, Belutschistan, hat jedoch einen wilden Ruf. In Quetta kann ich ein Busticket nach Zahedan im Iran kaufen. Vor der Grenze zum Iran verläuft die einspurige Teerstraße im Sand. Die beiden Busse im Konvoi liefern sich ein Rennen im Wüstensand. Ich bin mit der Ladung auf dem Dach. Homeward bound!

Auf einem Truck im Staub

In Anatolien höre ich die erste Kirchenglocke seit Jahren, seit meiner Abreise aus Europa, und sehe Männer beim Kartenspielen. In Ankara fühle ich bereits, dass ich zurück in Europa bin. Von Istanbul bekomme ich einen Lift (Mitfahrgelegenheit) von einem Dänen mit VW-Bus auf der Heimreise bis vor die Haustür meiner Eltern in Kolbermoor.

Im November 1979 klingele ich an der Tür meiner Eltern und bin ganz gespannt. Nach über vier Jahren Abwesenheit unser Wiedersehen. Tränen der Freude und Erleichterung. Heimat. Weihnachten zu Hause, so wie früher. Wiener Schnitzel. Bratkartoffeln. Warm eingeheizt. Geborgen. Es ist schön, ein echtes Zuhause zu haben. Meine liebe Mutti, was hat die wohl mitgemacht die ganzen Jahre der Ungewissheit?

Und bald haben Lindy und ich geheiratet

Unterwegs-Sein

Jörg Lorimerst 1948 geboren, wohnhaft in Kolbermoor im Landkreis Rosenheim, pensionierter Bauingeieur. Er ist ein Kind der 60er: Hippies, Aussteiger und Kathmandu weckten seine Fantasie bis zur Unerträglichkeit – Die Große Freiheit.

Er ist Fotograf aus Leidenschaft, viele Jahre hat er Adio-Visionsschows organisiert und war damit erfolgreich unterwegs. So gewann er zum Beispiel den Publikumspreis bei El Mundo in Judenburg 2002 mit Die Große Freiheit. Die Bronzemedaille erhielt er beim VÖAV Mensch und Natur, Linz-Leonding 2010. Etliche andere Preise hat er in dieser Karriere erhalten. Jörg ist (noch) kein dzg-Mitglied.

Jörg heute
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