Ein unerschrockener Globetrotter bei den Guerillas und Drogenschmugglern Kolumbiens [Historischer Reisebericht]

Mit dem Fahrrad 2001 durch No-Go-Gebiete des damals gefährlichsten Landes des Kontinents

Text und Bilder von Henrik Schumacher, Reisezeit Februar bis April 2001

Nachdem 2016 der kolumbianische Präsident und der Anführer der FARC, der mit Abstand größten Rebellengruppe in diesem Land, einen Friedensvertrag unterzeichneten, schien dieses wunderbare Land plötzlich sicher zu sein. Der Individual-Tourismus erwachte. Dies schlug sich auch in einigen Reiseberichten von dzg-lern im Trotter während der letzten Jahre nieder.

Doch vor 20 Jahren war das völlig anders. Obwohl 20 Jahre zurückliegende Reisegeschichten noch nicht unbedingt als nostalgisch zu betrachten sind, sollte dieser Bericht trotzdem in den Nostalgie-Trotter (196) aufgenommen werden. Denn es gibt sicher nur wenige Reisende, die zu jener Zeit durch das kolumbianische Kernland gereist sind und derart spektakuläre und teilweise haarsträubende Erlebnisse hatten. Aus Platzgründen mussten wir diesen Text schließlich auf die hier nun vorliegende Ausgabe verschieben.

Henrik nimmt uns mit auf seine individuelle Reise – überwiegend mit dem Fahrrad – durch das Kolumbien vor 20 Jahren.

Zuerst Ecuador

Das Außenministerium hatte nachdrücklich davor gewarnt, nach Ecuador zu reisen. Die Regierung von Quito hatte die Gaspreise um 50 Prozent erhöht. Alle Hauptstraßen in Ecuador waren mit brennenden Barrikaden versperrt und während der gewaltsamen Demonstrationen in Quito hatte das Militär einige Demonstranten erschossen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine dreimonatige Radtour durch Südamerika, aber es ist auch nicht das erste Mal, dass ein südamerikanisches Land diese Art von Aufruhr erlebt.

Nach einer schönen Woche und einem großen Loch in der Reisekasse verließ ich Quito trotz Unruhen im Norden. Ich genoss den Fahrtwind, den Duft von nassem Asphalt und nicht zuletzt das Fahrrad als Transportmittel, dem die Seele folgen kann. Die Straßen waren weitgehend verkehrsfrei und die Einheimischen ließen mich durch ihre Straßensperren für ein paar Zigaretten und smalltalk passieren.

Nach drei Tagen erreichte ich die Grenze zu Kolumbien, wahrscheinlich das bisher herausforderndste Land für mich. Guerillas und paramilitärische Streitkräfte stellten mich vor völlig neue Herausforderungen, nämlich die Gefahr entführt zu werden, war während der zwei Monate in Kolumbien die ganze Zeit präsent.

Mit Drogenschmugglern ins Kokaingebiet

Ich liebe es von den Anden hinunter in die Amazonas-Regenwald zu fahren. Man kommt durch die verschiedenen Vegetationszonen, von kalten und baumlosen Berggipfeln bis hin zu dichtem Regenwald mit Wasserfällen, Tieren und schwüler Hitze. In Pasto verließ ich den weltberühmten Panamerican Highway, der in Alaska beginnt und nach 22.000 Kilometern am Kap Hoorn endet. Zwischen Panama und Kolumbien fehlen jedoch 400 Kilometer im Sumpf- und Regenwaldgebiet Darién.

Der Plan war vom See Laguna de La Cocha in 3.300 Metern Höhe bis zum kolumbianischen Kokaingebiet Putumayo zu radeln. Mein Fahrrad war nicht für diese holprige Straße mit großen Steinen und Schlammpfützen geeignet und so entschloss ich mich nach Mocoa mit dem Rad zu trampen. Es dauerte nicht lange, bis zwei nette Jungs aus Cali mich und mein Rad mitnahmen. Sie wollten hinunter zum Amazonas um »die Familie zu besuchen« und einige spezielle »Kräuter« zu sammeln, die nur in dieser Gegend wachsen.

Wir brauchten fast den ganzen Tag, um die 140 Kilometer mit mehreren Stopps zu fahren. Unterwegs bezahlten sie größere Beträge an Leutchen, die sie die lokale Straßenverwaltung nannten. Mich beschrieben sie »loco aleman con bici«, was so viel heißt wie »verrückter Deutscher mit Fahrrad«. Es war mir total egal wie sie mich nannten, solange ich nicht zahlen musste und ich die einzigartige und unberührte Natur genießen konnte. Wir fuhren auf schmalen Feldwegen, die an den steilen Hängen zu kleben schienen, durch das fruchtbare Sibordoy-Tal, wo wir atemberaubende Blicke auf den Regenwald genossen. Aus dem Autofenster konnte ich manchmal ein paar hundert Meter weiter unten einen tosenden Fluss sehen. Es freute mich einer der wenigen Reisenden zu sein, die dieses Naturspektakel erlebt haben und dann auch noch in Begleitung von Drogenkurieren.

Trampen mit zwei Drogendealern nach Mocoa im Kokaingebiet Putumayo

Am späten Nachmittag erreichten wir eine Kreuzung, an der sich unsere Wege trennten. Sie wünschten mir viel Glück für die Reise. Die letzten 15 bis 20 Kilometer nach Mocoa ähnelten dem letzten Tag der Tour de France. Alle Einheimischen, Kinder und Erwachsenen stürmten aus ihren Hütten, um mich zu begrüßen und mir im Vorbeifahren auf die Schulter zu klopfen. Die Kinder und Hunde rannten hinter mir her, sie pfiffen und klatschten in die Hände. Ich war seit mehreren Jahren der einzige Tourist, der in ihre wunderschöne Gegend gekommen war.

Die US-amerikanische Art Drogenprobleme zu lösen

Mocoa, die größte Stadt der Region, in 600 Metern Höhe gelegen, ist umgeben von Regenwald und hat ein angenehmes Klima. Die Stadt profitiert vom Drogenhandel. In den vielen Hotels, Restaurants, Bars, Salsatecas (lateinamerikanische Discotheken mit Salsa-Musik) und auf den Straßen herrscht eine einzigartige Atmosphäre. Ich fühlte mich sehr sicher und wurde schnell als »el ciclisto«, der Fahrradfahrer bekannt.

Am nächsten Morgen wurde ich von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt. Etwas geschockt fragte ich den Hotelbesitzer, was los sei. Es waren amerikanische Spezialeinheiten, die gegen Drogen kämpften. Die US-Regierung hatte in Zusammenarbeit mit der kolumbianischen Regierung einen Plana Colombiana ausgearbeitet, der 1,3 Milliarden US-Dollar kostete. Es ging darum alle Koka-Pflanzen mit Hilfe von Pflanzengift zu vernichten und bei gleicher Gelegenheit die illegalen Drogenlabors der Gegend zu zerstören. Die Vereinigten Staaten hatten Spezialeinheiten entsandt um diese Aufgabe mit Hubschraubern und Waffen auszuführen. Es gelang ihnen, große Gebiete und vor allem Flüsse zu vergiften.

Die Kokainproduktion und Tausende von Flüchtlingen sind in die Nachbarländer ausgewandert. Dort ist die Produktion so groß wie zuvor, aber besser verteilt. Alternativen und Hilfe wurden den Einheimischen niemals angeboten. Das muss die US-amerikanische Art sein, ihre eigenen Drogenprobleme zu lösen, dachte ich. Wie würde die US-Regierung reagieren, wenn Saudi-Araber kalifornische Weinberge mit Gift besprühen würden, weil Alkohol in ihrem Land genauso verboten ist wie Kokain in den USA?

Gleichzeitig hatte die EU den Koka-Bauern (Cocaleros) angeboten diese für die Zerstörung ihrer Pflanzen ohne Gift zu bezahlen. Anschließend sollten sie Obstbäume pflanzen und die EU würde die Früchte für den gleichen Preis kaufen, den sie zuvor von den Drogenbaronen erhalten hatten. Keine schlechte Idee, aber die »Hier und Jetzt-Lösung« der USA war schneller. In den nächsten Tagen sah ich wie die kranken Cocaleros mit ihren Kindern auf den Armen in die Stadt kamen, weil sie vergiftetes Wasser getrunken hatten. Die Stimmung hatte sich um 180 Grad gedreht und ich hatte genug von der kurzsichtigen Drogenpolitik der USA.

Schlechte Stimmung im Guerillagebiet

Ich radelte durch den Regenwald und freute mich über jeden Kilometer, den ich mit dem Fahrrad zurücklegte, ohne die berüchtigte FARC zu treffen, Kolumbiens größte Guerillagruppe (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, deutsch: Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens).

Mein nächstes Ziel, San Augustín, war laut Lonely Planet von 1994 nach Machu Picchu die zweitgrößte Touristenattraktion Südamerikas. Als ich in San Augustín ankam, wirkte die Stadt wie ausgestorben, als ob eine schwere Depression sie getroffen hätte. Keine Touristen, keine Musik. Viele der Bewohner hatten ihr Hab und Gut gepackt und waren dabei, die Stadt zu verlassen. Eine Französin, die ein kleines Hotel in der Stadt besaß, fragte mich, ob ich nicht die Nachrichten von letzter Woche gehört hätte. Mein Bedarf an kolumbianischen Nachrichten war längst gedeckt, nachdem ich in den Nachrichten jeden Abend durchschnittlich 20 bis 30 Leichen im TV zählen konnte. Eine neue Guerillagruppe etablierte sich im nahe gelegenen Berggebiet und hatte sieben Touristen in San Augustín erschossen. Das reicht dann erstmal, dachte ich. Warum kann ich nicht einfach entlang der Donau radeln, in den Alpen wandern gehen oder einen Charterflug nach Spanien buchen?

Am nächsten Tag hatte ich den ganzen berühmten Steinskulpturenpark für mich allein. Die Skulpturen sollen denen auf der Osterinsel etwas ähnlich sein. Auf meiner Landkarte zeigte mir der Hotelbesitzer, dass San Augustín von der Guerillagruppe umzingelt war, bis auf die Straße, auf der ich gekommen war. Das Beste war wahrscheinlich, den Bus nach dem circa 140 Kilometer nordwestlich gelegenen Popayán zu nehmen. Gute Idee! So versteckten wir mein Fahrrad zwischen Obstkörben und großen Taschen auf dem Dach und meine Fahrradtaschen wurden in eine große karierte Plastiktasche gepackt. Ich reservierte den mittleren Sitz auf der Rückbank und abgesehen von meinen blauen Augen konnte ich sehr gut wie ein Kolumbianer durchgehen.

Im Skulpturenpark San Agustín in dem ein paar Tage vorher sieben Touristen umgebracht wurden

Der Bus war völlig überbucht, als wir San Augustín verließen. Die Stimmung im Bus war für Südamerika sehr untypisch. Es wurde keine Musik gespielt und alle Passagiere waren still und sehr nervös. Jedes Mal, wenn der Bus anhielt, konnte man spüren, dass alle den Atem anhielten, als sie aus dem Fenster schauten. Viele drehten sich in meine Richtung und schauten mich an, als wollten sie fragen, was zum Teufel ich hier tat.

Das gleiche dachte ich, als der Bus von einer Gruppe Guerillas angehalten wurde. Zehn junge Männer in Tarnkleidung, Gummistiefeln und teilweise mit schwarz-roten Halstüchern maskiert hatten den Bus umzingelt, breitbeinig mit ihren Maschinengewehren in den Händen. Mein erster Gedanke war »Wow, das sind echte Guerillas«; und der nächste »Schiet, wie gehe ich mit dieser Situation um?« Tatsächlich hatte ich mich sehr schnell damit abgefunden, dass meine Reise hier in der Wildnis enden würde. Mein Erspartes würde sicher nicht ausreichen, um das Lösegeld zu bezahlen. Ich war ganz in meinen Gedanken, wie viel ich wirklich wert war, als zwei Leute in den Bus stiegen und etwas riefen, das ich zum Glück nicht verstand. Sie schauten nur entlang der beiden Sitzreihen und konnten mich zum Glück nicht sehen. Einer von ihnen zeigte mit seinem Maschinengewehr auf einen Mann mit einem frisch gebügelten weißen Hemd und forderte ihn auf, mitzukommen. Ich bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte und offensichtlich keine große Lust hatte den Bus zu verlassen. Ich hatte das Glück, am Ende des Ganges zu sitzen. Da viele Mitreisende in der Mitte standen, konnten sie mich nicht sehen.

Die Stille im Bus dauerte bis etwa dreißig Kilometer vor Popayán. Wir hatten offensichtlich das Guerillagebiet verlassen und die Leute waren erleichtert, dass nicht mehr passiert war. Das Unverständlichste für die anderen im Bus war, dass sie zu Flüchtlingen in ihrem eigenen Land wurden und warum zum Teufel ich hier herumreiste. Ich gab ihnen in beiden Punkten Recht.

Es wurde dunkel, als ich nach einem passenden Hotel Ausschau hielt. Überall in der Stadt brannten Kerzen und mein erster Gedanke war »ach, wie gemütlich, ich werde ein paar Tage hierbleiben«, bis ich herausfand, dass die Guerillas den Strom auf unbestimmte Zeit abgeschaltet hatten. Pünktlich um 20 Uhr zum Anpfiff des Fußballspiels zwischen Kolumbien und Australien (3:2), gab es wieder Strom in der Stadt (Das Freundschaftsspiel fand am 28.02.2001 in Bogotá statt, Anm. d. Red.). Zusammen mit einem Backpacker aus Nordirland stieß ich sowohl auf Kolumbiens Sieg als auch auf das aufregende Reiseziel, das Kolumbien ohne Zweifel war, an.

Popayán ist ansonsten eine gemütliche alte Kolonialstadt, die nach einem schweren Erdbeben im gleichen Stil wiederaufgebaut wurde. Sie steht auf der Weltkulturliste der UNESCO und ist auf jeden Fall eine Reise wert. Zurück auf der Panamericana fuhr ich an einigen ausgebrannten Autos und Bussen vorbei und bildete mir ein, dass sie alle nach Sonnenuntergang überfallen wuren. Einige Autobesitzer rüsteten ihre Autos mit kugelsicheren Fenstern und Rädern auf. Zusätzlich wurde in die Fensterscheiben dieselbe Nummer eingraviert wie auf den Nummernschildern. Manchmal bin ich durch Geisterdörfer geradelt, verlassen mit Einschusslöchern in den Hauswänden, zerbrochenen Fenstern und Graffiti überall. Es herrschte eine unangenehme Atmosphäre und ich radelte schnell weiter, leider ohne einen Fotostop einzulegen.

Mein nächster längerer Stop war die Großstadt Cali. Zwanzig Kilometer vor der Stadt wurde ich Zeuge eines Geschehens, das man nur in Kolumbien erleben kann. Mitten auf der Straße standen 58 Männer in Fahrradkleidung, aber ohne Fahrräder, ein groteskes Bild. Die Männer waren überfallen worden, alle Fahrräder wurden kurz darauf in einen Lastwagen verfrachtet und jetzt standen die armen Jungs am Straßenrand und riefen um Hilfe. »Willkommen in Cali«, dachte ich und eilte vor Sonnenuntergang in die Millionenstadt. Ich habe einige schöne Tage in Cali verbracht und festgestellt, dass in der Stadt die hübschesten Frauen in Kolumbien leben und Cali ohne Zweifel ein Mekka für Salsamusik ist.

Chocó, der vergessene Bundesstaat im Nordwesten Kolumbiens

Ich hatte in Cali genug Energie getankt um mich auf neue Abenteuer einzulassen. Gemäß Lonely Planet könnte ich ein Frachtboot von Chocós Hauptstadt Quibdó den Río Atrato hinauf nach Turbo, einer Hafenstadt am Karibischen Meer, nehmen. Es gibt nur eine Straße nach Quibdó und sie ist in einem sehr schlechten Zustand. Ich nahm den Bus und überhörte mal wieder alle Warnungen der Einheimischen, nicht dorthin zu fahren.

Der Río Atrato, von hier wollte Henrik mit einem Cargo-Boot bis zur Karibikküste segeln

Chocó, den die Kolumbianer den vergessenen Bundesstaat nennen, ist ungefähr so groß wie Frankreich und liegt an der Pazifikküste. Nur 90 bis 100.000 Menschen leben dort, von denen 5 bis 10.000 Indianer sind und der Rest Schwarze. Chocó besteht hauptsächlich aus Tropischem Regenwald und Sumpfgebieten weiter nördlich an der Grenze zu Panama. Der Regenwald hat keine Verbindung zum Amazonas und sollte daher mit 20 Prozent endemischen Pflanzen etwas ganz Besonderes sein.

Es dauerte nicht lange, bis unser Bus von einer größeren Guerillagruppe angehalten wurde, diesmal die ELN (Ejército de Liberación Nacional, deutsch: Nationale Befreiungsarmee). Eine Gruppe junger Männer mit Che Guevara-T-Shirts hatte Handgranaten an ihren Militärwesten hängen. Sie standen rund um den Bus, schussbereit mit Gewehren in ihren Händen.

Alle Passagiere außer mir verließen den Bus. Warum um alles in der Welt hörte ich nicht auf die Einheimischen, die mich gewarnt hatten? Warum musste ich mein Schicksal immer wieder herausfordern? Ich hatte es gerade geschafft, einige wichtige Wertgegenstände in der alten und abgenutzten Tasche meines Nachbarn aufzubewahren, bevor ich aus dem Bus zum Kommandanten gebracht wurde. Dort stand ich zwischen 15 und 20 bewaffneten Guerillas und war sehr gespannt, was mit mir passieren würde. Ich erinnere mich noch genau, wie ich erstaunlich ruhig war, meine Nerven unter Kontrolle hatte und lächelte, während ich den Kommandanten auf Spanisch begrüßte. Die innere Spannung, die mir den ganzen Weg durch das Land gefolgt war, war plötzlich verschwunden. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, ein sehr seltsames Gefühl. Mein Schicksal lag in ihren Händen.

Sofort nachdem sie mich auf Waffen untersucht hatten, musste ich dem Kommandanten meinen Pass übergeben. Er stellte viele Fragen, bei denen es darum ging, ob es sich lohnte, mich zu entführen. Schnell begriff ich, worum es ging und erzählte ihm eine »wasserdichte« Geschichte, die keinen Grund für eine Entführung abgab. Alle, sowohl Guerillas als auch Passagiere und einige Einheimische, lauschten meiner teilweisen Lügengeschichte. Meine Eltern wären bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, ich hätte keine Geschwister, ich hätte meinen Job als Krankenpfleger gekündigt, das kleine Haus verkauft und wäre in die Heimat meiner Mutter gezogen. Ich hätte mein verbleibendes Geld für ein gebrauchtes Fahrrad und ein Flugticket nach Quito ausgegeben, um meinen Traum von einer Reise durch Südamerika zu verwirklichen. Ich schlief in meiner Hängematte und fuhr Fahrrad, um Geld zu sparen. Außerdem waren die Kolumbianer unglaublich gastfreundlich, luden mich zum Mittagessen ein oder gaben mir Früchte mit auf den Weg.

Es dauerte ungefähr anderthalb Stunden, in denen ich einige der Dinge wiederholen musste, die ich zuvor gesagt hatte. Nach einer kurzen Pause scannte er mich von Kopf bis Fuß, stopfte meinen Pass in seine Brusttasche, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann sagte er, dass sie einen Arzt oder einen Krankenpfleger gebrauchen könnten.

Kurz gesagt, mir kam die Idee einer Karriere als Krankenschwester bei den Guerillas; es würde sicherlich den Lebenslauf schmücken, aber was ist mit meiner besorgten Familie und meinen Freunden zu Hause, was ist mit der Verlängerung meines Visums, es sollte zeitlich begrenzt sein …

Die seltsamsten Gedanken liefen in meinem Kopf herum und das Einzige, was ich ihm sagte, war, dass es nicht möglich war. Er drehte den Kopf zur Seite und fragte mit einem überlegenen Lächeln: »Warum nicht?«, und dann tauchte es einfach aus mir auf. Jetzt war ich den langen Weg von Dänemark nach Quito gekommen, mit dem Fahrrad von dort hierher geradelt, und jetzt, kurz vor dem Regenwald, sollte meine Reise enden? Ich hatte so viel über den Regenwald gehört und gelesen, dass ich ihn jetzt mit alledem erleben wollte, was dazu gehört, und außerdem gibt es in Dänemark keinen Regenwald.

Er lachte, als er mir erzählte, was mich im Regenwald erwarten würde, gab mir meinen Pass zurück und sagte, ich sei verrückt, dass er mir nur Glück in der grünen Hölle wünschen würde. Ich bedankte mich freundlich und ging zurück zum Bus, wo ich mich in meinem Sitz zurücklehnte und ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Das Grinsen wird dir noch vergehen, sagte mein Sitznachbar, denn in ungefähr einer Stunde erreichen wir die nächste Guerillagruppe.

Als wir dort ankamen, musste ich mich in bester Hollywood-Manier mit gespreizten Beinen an den Bus lehnen, während ein kleiner Junge sein Gewehr in meinen Rücken bohrte. Der Busfahrer verkürzte den Aufenthalt und erzählte dem Kommandanten die Schnellversion. Er stellte einige spezifische Fragen, die darauf hinwiesen, dass die beiden Gruppen miteinander kommunizierten. Meine Lügengeschichte war scheinbar überzeugend und ich war ein wenig stolz darauf, dass niemand meine 1.000 US-Dollar gefunden hatte, die gut in meiner Fahrradhose versteckt waren. Wir setzten die Reise fort zur letzten Guerilla-Gruppe. Der Kommandant dort hatte eine Sonnenbrille auf der Nase und die Mütze verdeckte seine Stirn. Aus Erfahrung wusste ich, dass es kein gutes Zeichen war, aber ich musste ihm zu einer Hütte folgen, die etwas weiter entfernt lag. Mein erster Gedanke war, dass er schwul sei. Warum ich? Warum sollte ich nach all dem, was heute passiert war, in eine solche Situation geraten? Ich wurde sehr nervös und wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte. Mein homosexuelles Debüt mit einem Guerilla in einer verlassenen Hütte in Kolumbien, wow. Wir gingen in die Hütte, er schloss die Tür, nahm seine Brille ab, warf seine Mütze auf den Tisch und lächelte. Was hätte ich tun sollen? Die Aufregung war kaum zu ertragen. Er bot mir etwas zu trinken an und stellte dann viele Fragen über meine Radtour, das Leben in Europa und, und, und. Ich war so erleichtert, dass ich ihm fast um den Hals fiel. Zurück im Bus, entschuldigte ich mich viele Male und verteilte meinen letzten Zigaretten, während ich unzählige Fragen beantwortete. Kurz vor Quibdó wurden wir erneut überprüft, diesmal vom offiziellen Militär. Ich musste ein wenig schmunzeln.

Vom kolumbianischen FBI zurückgeschickt

Es war drückend heiß, als wir im Dunkeln in Quibdó ankamen. Mein größter Wunsch war ein Hotelzimmer mit Klimaanlage, etwas zu essen und ein kaltes Bier. Am nächsten Tag untersuchte ich die Möglichkeit mit dem Frachtboot 400 Kilometer gen Norden durch den Regenwald den Río Atrato hinauf zur Karibikküste nach Turbo zu segeln. Dieser Frachtverkehr war leider eingestellt worden, nachdem die AUC (Paramilitärs: Autodefensas Unidas de Colombia, deutsch: Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) begonnen hatte, das Gebiet weiter nördlich zu kontrollieren. Ich könnte versuchen, mit den Indianern von Dorf zu Dorf zu segeln, aber es würde wahrscheinlich Wochen dauern, und dann hätte ich das Problem mit der AUC, die zuerst schießt, bevor sie Fragen stellt.

Die Kathedrale von Quibdo im Bundesstaat Choco, der ärmsten Region Kolumbiens

Auf dem Weg zur Halbinsel Coro im Gegenwind

Auf der Suche nach einem geeigneten Übernachtungsplatz (Bild links) – Ein Open-Air-Hostel im Tayrona-Nationalpark

Ich war jetzt mehr als enttäuscht. Dieser Teil der Reise sollte das highlight der Reise sein und ich hatte mich auf diese einzigartige Reise um die Guerilla herum riesig gefreut. Stattdessen ging ich durch die Stadt und genoss die faszinierende Atmosphäre. Eine Mischung aus Schwarzafrika und dem Amazonas, die vom Rest Kolumbiens völlig ignoriert und vergessen wird. Halbnackte Eingeborene, die verwirrt herumliefen, orientierungslos, teilweise betrunken. Abends schaute ich ihnen hinterher, wenn sie im Dunkeln mit ihren selbstgebauten Kanus zurück in den Regenwald verschwanden.

Um zehn Uhr abends klopfte es an der Tür, und ein schwarzes Mädchen in den Zwanzigern mit einem kurzen Kleid, rotem Lippenstift und einem tiefen herzförmigen Ausschnitt fragte, ob ich etwas für die Nacht bräuchte, während sie ihre Brüste hob. Ich bedankte mich und sagte, dass ich in den letzten Tagen genug erlebt hätte.

Am nächsten Morgen wurde ich von zwei in zivil gekleideten kolumbianischen DAS-Agenten (Departamento Administrativo de Seguridad, deutsch: Inlandsgeheimdienst Kolumbiens) aufgesucht. Sie überprüften meinen Pass über das Walkie-Talkie und fragten nach meiner Mission. Meine Mission? Ich war ein Radtourist auf dem Weg von Quito nach Caracas, ohne Mission. Wie ich an der Guerilla vorbeikam, was mein Plan war und ob ich eine Ahnung hätte, in welchem ​​Gebiet ich mich befände? Dann sagten sie mir ausdrücklich, dass es hier in der Gegend bürgerkriegsähnliche Konflikte gebe und dass ich Quibdó so schnell wie möglich verlassen sollte. Die letzten Westler, die das Gebiet verließen, waren von Ärzte ohne Grenzen, nachdem einer von ihnen im Juli 2000 entführt und einen Monat vor meiner Ankunft freigelassen worden war.

Ich entschied mich für den Nachtbus, anstatt eine ganze Woche auf einen Sitzplatz in einem Militärflugzeug zu warten. Natürlich war ich nervös, aber ich hatte keine wirkliche Alternative. Glücklicherweise schliefen meine Guerilla-Freunde, als wir den gleichen Weg zurückfuhren und am nächsten Morgen kamen wir erleichtert in Medellín an.

Ich radelte weiter in Richtung Cartagena. Unterwegs bin ich nur auf einen weiteren Guerilla-Posten gestoßen. Ich schlich mich an ihnen vorbei, während die ganze Bande zu Mittag schlief. Nachdem ich die Berge verlassen hatte, wurde die Landschaft etwas trauriger. Es gab nur einzelne Felder mit Zuckerrohr, Mais und vielen Kühen. Die Sonne brannte von morgens bis abends. Ein starker Gegenwind plagte mich bis nach Cartagena. Es gibt nichts Schlimmeres als den ganzen Tag gegen den Wind anzuradeln. Das nächste Mal schaue ich mir die Wetterkarte genauer an, bevor ich meine Reise beginne.

Cartagena und Semana Santa

Endlich erreichte ich Cartagena, die Metropole mit der gut erhaltenen Altstadt an der Karibikküste. Ich genoss das Meer und das Großstadtleben. In der ganzen Stadt wimmelte es von ausländischen Touristen, sowohl von kokainfreudigen Rucksacktouristen als auch von Tausenden von Touristen von den vielen Kreuzfahrtschiffen. Ich bekam ein Visum für Venezuela und machte Pläne, wo ich meine wohlverdiente Semana Santa (Osterwoche) genießen wollte. Dies ist der südamerikanische Sommerurlaub, die Preise verdoppeln sich und als Radfahrer muss man sich weit weg von den Straßen entfernen, sonst wird man von einem Betrunkenen angefahren. Darüber hinaus sind die Hotels in dieser Osterwoche total überbucht.

Die Osterwoche (Semana Santa) wurde am Strand verbracht

Die neue Regierung unter Präsident Andrés Pastrana hatte den Kolumbianern versprochen, im eigenen Auto sicher von Bogotá bis zur Küste fahren zu können. Zu Ostern verließen jeden Tag bis zu drei Militärkonvois die Hauptstadt und über 200 Privatwagen gleichzeitig. Sowohl am Boden als auch in der Luft sorgte das Militär dafür, dass keines der Autos angehalten und angegriffen wurde. Die Bilder im TV waren so absurd und ich hoffte, dass so etwas in Europa niemals passieren würde. Aber das war damals zu Ostern 2001. Heute dürfen wir nicht einmal eine Plastikflasche Wasser mit ins Flugzeug nehmen.

Kurz vor der Sierra Nevada verließ ich die Küstenstraße und radelte durch einen Wald eine unbefestigte Straße hinunter, die in einem kleinen Pfad endete. Am Ende erwartete mich das Paradies, der Tayrona-Nationalpark, mit Hängematten unter einem Palmendach, weißem Sandstrand und kleinen Restaurants. Der Ort war voll mit Rucksacktouristen aus ganz Südamerika. Abends saßen wir zusammen und alle hatten eine gute und lustige Geschichte zu erzählen. Der Tisch füllte sich schnell mit Flaschen, die Gitarre ausgepackt und es wurde bis zum frühen Morgen gefeiert. Wunderschön, ein unvergesslicher Osterurlaub.

Venezuela enttäuscht

Die Zeit drängte. Ich musste meinen Flug in Caracas erreichen, obwohl der Wind mich davon abhielt länger in diesem schönen Land zu bleiben. Venezuela war ein großer Albtraum. Mehrmals musste ich vom Fahrrad springen, weil die Autofahrer nicht aufpassten. Am letzten Tag wäre es fast schief gegangen, als meine Bremse auf einer Serpentinenstraße kaputt ging. Ich rettete mich durch einen Stunt und dachte, es sei Zeit nach Hause zum Kopenhagener Frühling zurückzukehren.

Kolumbianische Fakten des Jahres 2001:

  • 98 Prozent aller Morde und Verbrechen werden in Kolumbien niemals aufgeklärt;
  • 000 Entführungen pro Jahr (Weltrekord);
  • 000 Morde (2004);
  • 450.000 Binnenvertriebene (Weltrekord 2001);
  • 000.000 Einwohner, von denen 0,3 Prozent Ausländer sind. 3 Prozent der Kolumbianer leben im Ausland, hauptsächlich in den USA;
  • FARC mit circa 20.000 Männern, ELN mit rund 6 bis 9.000 Männern, sowohl Guerillagruppen als auch AUC (paramilitärisch) mit rund 15 bis 20.000 Männern kontrollieren 40 bis 60 Prozent der Gebiete des Landes, hauptsächlich ländliche Gebiete;
  • Die drei Gruppen zusammen haben ungefähr die gleiche Stärke wie das Militär (2001);
  • Der Guerillakonflikt hat seit 1966 mehr als 200.000 Menschen das Leben gekostet, hauptsächlich Bauern;
  • 74 Prozent der Bevölkerung lebt in Städten;
  • Kolumbien produziert 80 Prozent des weltweiten Kokains, 25 Prozent des weltweiten Heroins und unzählige Tonnen Marihuana;
  • Über 980 Flughäfen / Landebahnen, sowohl legale als auch illegale;
  • Nur 26 Prozent der Straßen sind asphaltiert; Menschen fliegen lieber, auch kurze Strecken, oder sie bleiben in der Umgebung;
  • Die US-Militärhilfe in Höhe von 7,5 Milliarden US-Dollar hat keine große Wirkung.

Unterwegs-Sein

Henrik, seit ein paar Jahren dzg-Mitglied, lebt in Dänemark. Er unternahm bereits als 14-Jähriger seine erste Solo-Auslandsreise mit dem Fahrrad. In den 80er Jahren trampte er durch Europa, reiste über Land nach Nepal und durch den Mittleren Osten bis nach Afrika. Per Zufall bot sich ihm die Gelegenheit an, als Mit-Segler Segelboote zu überführen, unter anderem von Kuba nach Frankreich. Insgesamt hat er etwa sieben Monate auf verschiedenen Booten und Meeren verbracht, komplett ohne Segelschein.

Anfang der 90er hat er die Liebe zum Fahrrad neu entdeckt; seit dieser Zeit radelte er mehr als 50.000 Kilometer auf sechs Kontinenten. So war er zum Beispiel in Haiti während der Cholera-Epidemie und radelte durch den Chaco in Paraguay. Insgesamt hat er über zehn Jahre im Ausland auf Reisen verbracht. Die Radtour durch Kolumbien 2001 war eine von vier Radtouren in Südamerika, aber mit Sicherheit nicht die letzte. Weitere Infos zu seiner viel bewegten Reise-Vita finden sich im Corona-Sonder-Trotter 191 (Mai 2020) am Ende seines Reiseberichts Corona in Dänemark – Das Virus bei unseren nördlichen Nachbarn (Seiten 51 bis 54).

Henrik in der historischen Stadt Popayán
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